Russische Militärpolizisten in Sankt Petersburg: Mit dem Überfall auf die Ukraine wurde deutlich, dass Anspruch und Wirklichkeit beim russischen Militär weit auseinander liegen. Foto: picture alliance/AP

22.09.2022
Von Wolf Poulet

Ist Russland auf dem Weg, eine Phantom-Großmacht zu werden?

Seit mehr als einem halben Jahr agieren russische Streitkräfte in der Ukraine völkerrechtswidrig und verbrecherisch gegen internationale Gesetze. Bisher haben sie den Test in Bezug auf eine erfolgreiche konventionelle Kriegsführung nicht bestehen können. Der unter systematischer Verdrehung der Fakten begonnene Angriffskrieg gegen das slawische Brudervolk, angeordnet durch den „großen Führer“ Wladimir Putin, konnte aufgrund unzureichend durchdachter Kriegsziele und unprofessioneller Operationsführung der Generale nicht planmäßig umgesetzt werden. Die Führungsorganisation des Heeres ist offensichtlich so out-dated, dass sie den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird. Soweit Teile der Luftwaffe wie auch der Kriegsmarine beobachtet werden konnten, scheint ihre Effektivität ebenfalls eingeschränkt.

Ein Grund liegt in der Praxis der Rekrutierung. Gefallene stammen am häufigsten aus Regionen wie Dagestan und Burjatien. Aus Metropolen wie Moskau und St. Petersburg gibt es bislang so gut wie keine Toten. Inzwischen werden auch Schwerverbrecher aus den Gefängnissen für die Front rekrutiert, um trotz hoher Verluste eine Generalmobilmachung zu vermeiden. Diese würde die verlogene Mär von der sauberen „Spezialaktion“ gänzlich auffliegen lassen.

Inzwischen hat Staatschef Putin am 21. September weiter eskaliert und eine Teilmobilmachung angekündigt, von der rund 300.000 Menschen betroffen sind. Sein Argument: Der Westen wolle Russland zerstören und habe kein Interesse am Frieden zwischen Russland und der Ukraine. Reine Propaganda auf dem Weg zu einem Kriegsgrund mit dem Westen! Will das russische Volk seinem offenbar kriegslüsternen Präsidenten wirklich zustimmen?

Wie dem auch sei – die Entwicklung der russischen Kampfmoral geht nur in eine Richtung, nach unten. Demgegenüber haben die ukrainischen Streitkräfte seit 2014 eine signifikante Modernisierung durchlaufen. Mit Hilfe von Ausbildung aus den USA, dem Vereinigten Königreich und anderen Staaten haben sie sich in Strukturen und Führungsstil westlichen Standards genähert – möglicherweise übertreffen sie durch ihre Kampferfahrung der vergangenen Jahre sogar die Professionalität von manchen westlichen Einheiten.

Ausgewählte Fakten aus der russischen Militärorganisation

In den demokratischen Staaten weiß man schon lange, dass der Führungsstil in Streitkräften einen nicht zu überschätzenden Indikator für Einsatzleistung und Durchschlagskraft darstellt. In Russland sind noch immer autoritäre und patriarchalische Führungsstile angesagt. Die Streitkräfte betreiben einen besonders menschenverachtenden Führungsstil, der, wie es aussieht, bis heute nicht umfassend überwunden wurde. Es geht um den aus der Zarenzeit entstammenden Anachronismus namens „Dedowschtschina“ („D“), in dem Rekruten zu Beginn des Dienstjahres rechtlos als „Kanonenfutter“ verheizt werden können, je nach der Willkür eines Vorgesetzten oder dienstälteren(!) Soldaten. Ein belastbares Lagebild über die Verbreitung von „D“ wird im Verteidigungsministerium nicht geführt.

Im Sommer 2006 vermehrten sich Berichte aus Russland über „Soldatenmütter, die für die Rechte russischer Rekruten kämpfen“ („Staatssklaven“, FAZ, 19.06.2006). Im Herbst 2006 bot ich den russischen Streitkräften über das „Büro der Deutschen Wirtschaft “ in Moskau eine spezielle Beratung an. Es handelte sich um ein Modernisierungskonzept: „Die Abschaffung der Dedowschtschina in der Russischen Föderation erscheint zwingend geboten.“ Dabei ging es nicht um die theoretische Einführung der „Inneren Führung“ nach Machart der Bundeswehr, sondern um ein einfaches Ziel: In die Armee eintretende Männer und Frauen von Anfang an als akzeptierte Mitglieder anzuerkennen. Das aus dem 19.Jahrhundert (und davor) entwickelte Menschenbild mit dem Prinzip des „Brechens der Persönlichkeit“ eines Rekruten/Soldaten ist überholt und gehört nicht mehr in das sich digitalisierende 21. Jahrhundert. Ein modernes Militär braucht nicht mehr den Gebrochenen und empfindungslosen Apparatschik, sondern den zumindest teilweise Befähigten zum Mitmachen. Das Angebot wurde vom Generalstab nicht angenommen.

Das gleiche Beratungsangebot wurde 2016 erneut vorgelegt, über Facebook an Dr. Alexey Kortunov, seit 2011 Direktor des RIAC (Russian International Affairs Council). Er bedankte sich freundlich und wies darauf hin, dass ein solcher Ansatz zur Reform bereits in der Umsetzung sei. Eine diesbezügliche Berichterstattung ist mir nicht bekannt. Dr. Kortunov hat sich am 29. März 2022 diplomatisch über YouTube zu Wort gemeldet, mit der Überschrift „Die Ukraine hat das Recht als unabhängiges Land zu existieren.“  Er konstatiert, dass die Krim für immer zu Russland gehört und die beiden Donbass-Republiken unabhängig bleiben werden. Es wurde deutlich, dass er die Politik des Präsidenten voll mitträgt.

Aus dem Kriegsgeschehen „Russland gegen die Ukraine“ lassen offen zugängige Daten unübersehbare Schwachstellen in der russischen Operationsführung erkennen. Das russische Offizierskorps hat offenbar keinerlei Ausbildung in moderner Operationsführung (z.B. „Gefecht der verbundenen Waffen“) erhalten, man geht weiter nach veralteten Reglements vor. Das russische Heer hatte und hat wohl seit dem Weltkrieg keine Führungserfahrung in großangelegten Heeresoperationen gegen einen gleichwertigen Gegner gewinnen können. Jüngste Militäreinsätze in Georgien und Syrien konfrontierten Russland nicht mit nachhaltiger Herausforderung.

In den 1990er Jahren, während des Abzugs der russischen Truppen aus Deutschland, konnten Bundeswehroffiziere interessante Gespräche mit hohen russischen Offizieren führen. Bemerkenswert war das relative Erstaunen bis hin zur professionellen Bewunderung über Größenordnung und Aufwand der regelmäßig stattfindenden NATO-Übungen auf deutschem Territorium. An diesen Großübungen nahmen (im Wechsel) zwei bis drei Armeekorps teil (z.B. Bundeswehr-Corps, US-Army-Corps, UK-Corps, Belgische und NL-Divisionen, et al.) Die Personalstärke der übenden Truppe konnte über 100.000 Soldaten hinausgehen. Russische Truppenübungen dieser Größenordnung waren bis dahin nicht durchführbar. Die höchste Kommandoebene wurde erreicht durch Einsatz eines Kampftruppenregiments, also eine Truppenstärke unter 10.000 Soldaten. Russische Filmaufnahmen von beeindruckenden Formationen gepanzerter Fahrzeuge wurden hierzulande „Panzerballett“ genannt – damals wie heute inszenatorisch mit Regisseur gedreht. Fazit ist: Das russische Militär hat seit dem Zweiten Weltkrieg, abgesehen von der Bombardierung syrischer Städte, keine wirkliche Führungserfahrung mit großangelegten Militäroperationen gewinnen können.

Die Konkurrenz Russlands schaut genau hin

Der Verlauf des russischen Ukrainekriegs wird weltweit beobachtet, vor allem von den beiden globalen Troika-Mitgliedern USA und VR China. Ein analytischer Blick in das System der Russischen Föderation offenbart die gesellschaftliche, organisatorische, wirtschaftliche und nun auch militärische Überalterung der Russischen Föderation. Unter heutigen politischen Rahmenbedingungen und ohne Demokratie ist die Umkehr zu mehr Prosperität, Soft Power, wirtschaftlichem Aufschwung und angemessener militärischer Schlagkraft kaum noch denkbar.

Nur mit Atomwaffen allein werden die Optionen jeder nationalen Sicherheit sehr eindimensional. Sicherheitspolitik und internationale Vernetzung letztlich nur noch auf Basis atomarer Bedrohung betreiben zu wollen, führt Russland in das fragwürdige Isolationsszenario Nordkoreas, bestenfalls in die Rolle eines dauerhaften Juniorpartners und Rohstofflieferanten Chinas.

„„Der blutige Schlamm mongolischer Sklaverei und nicht die rüde Herrschaft der Normannenzeit war Moskaus Wiege, und das moderne Rußland ist nur eine Metamorphose dieses mongolischen Moskaus“, schrieb Karl Marx einst. Die brandaktuelle barbarische Politik Moskaus bei gleichzeitiger Verehrung westlichen Wohlstands zeigt, wie tief das Land in seinen Werten und Orientierungen zerrissen ist.

Wolf Poulet war 30 Jahre lang Berufssoldat, als Offizier bei den Panzertruppen und zuletzt als Oberst im Generalstabsdienst (i.G.) des Heeres. Seine Erfahrungen in Russland entstammen militärischer Inspektionstätigkeit wie auch Einsätzen der vertrauensbildenden Maßnahmen nach den KSZE-, heute OSZE-Regularien, in den Jahren 1990 bis 1993. Von 1988 bis 1990 war Poulet Sprecher des damaligen Generalinspekteurs, Admiral Dieter Wellershoff. Als parlamentarischer Referent der FDP-Bundestagsfraktion begleitete er Abgeordnete auf Reisen zu politischen Gesprächen nach Moskau. Tätigkeiten als Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Lateinamerika und als Berater für „Sicherheitssektorreform“ bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) schlossen sich an.

Wolf Poulet ist Geschäftsführer einer internationalen Beratungsfirma, die Regierungen in politisch instabilen Entwicklungsländern bei der Reform der Sicherheitskräfte berät.

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