Israelische Soldaten auf einer Panzerhaubitze nahe der Grenze zum Gazastreifen. Innerhalb von nur 48 Stunden wurden 300.000 israelische Reservisten mobilisiert. Foto: picture alliance/AA/Mostafa Alkharouf

Israelische Soldaten auf einer Panzerhaubitze nahe der Grenze zum Gazastreifen. Innerhalb von nur 48 Stunden wurden 300.000 israelische Reservisten mobilisiert. Foto: picture alliance/AA/Mostafa Alkharouf

05.11.2023
Von Gunnar Kruse

„Letztlich wird es wohl wieder auf eine Pattsituation hinauslaufen“

Wie könnte der Krieg zwischen Israel und den Hamas-Terroristen beendet werden? Welche Gefahr geht von der Hisbollah aus? Und ist eine langfristige Befriedung der Region überhaupt möglich? Der Nahost-Experte Stefan Lukas ordnet diese und weitere Aspekte ein.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom Hamas-Angriff auf Israel erfahren haben?

Stefan Lukas: Zum einen waren da emotionale Gedanken. Erst vor einem Jahr war ich dort und habe auch Freunde und Bekannte vor Ort. Zum anderen habe ich sofort gedacht, dass der Angriff auf jeden Fall eine ziemlich heftige Reaktion der Israelis zur Folge haben wird.

Waren Sie überrascht?

Na ja, überrascht ist relativ. Ich wusste, dass die Israelis seit längerem mit einem Angriff gerechnet haben. Überraschend war, in welcher Intensität er ausgefallen ist. Ich glaube, damit haben selbst teilweise einige Hamas-Funktionäre kaum gerechnet. Die Bilder, die man dort gesehen hat, die waren fürchterlich. Sie zeigen aber auch, wie groß der Druck auf Seiten der Palästinenser zum einen im Gazastreifen, aber auch in der Westbank ist. Es war absehbar, dass es dort wieder zu einer Gewaltspirale beziehungsweise zu Gewaltexzessen dieser Art kommen wird.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass es nun ausgerechnet an diesem Tag, diesem 7. Oktober 2023, passierte?

Das können wir ganz schwer beurteilen. Es hat aber den Anschein, dass es an dieser Stelle zum einen Aufklärungslücken gab, zum anderen, dass die Kräfte der Israel Defense Force extrem entzerrt und sehr ausgedünnt sind. Ein Großteil der Kräfte ist zu dem Zeitpunkt in der Westbank im Einsatz gebunden gewesen, Teile noch im Norden des Landes. Und anscheinend hat man in diesem Zeitraum deshalb von Seiten der Hamas wohl den idealen Zeitpunkt zum Angriff gesehen.

Jetzt droht das Eingreifen der Hisbollah, die als noch deutlich stärker angesehen wird als die Hamas. Wie schätzen Sie das Gefahrenpotenzial ein?

Das Gefahrenpotenzial ist natürlich exorbitant. Bei der Hisbollah, das hat unter anderem auch der BND in einer alten Analyse festgestellt, geht man davon aus, dass sie ungefähr 50.000 bis 60.000 Sprengkörper, Langstreckenraketen und ähnliches besitzt. Das heißt, da ist sehr, sehr großes Potenzial, dass die Hisbollah sogar das gesamte Land bedrohen könnte.

Auf der einen Seite ist die Hisbollah daran interessiert, ihren Ruf als Verteidiger der Sache der Palästinenser aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass es eigentlich immer nur so kleine Überfälle gab. Sie sind immer nur mit Motorrädern, mit kleineren Wagen, mit einzelnen Truppen über die Grenze gegangen. Jetzt ist interessant zu beobachten, dass es eigentlich schon fast eine Zurückhaltung der Hisbollah gibt. Einige Funktionäre der Hisbollah haben die Taten der Hamas sogar verurteilt. Es gibt auch dort sehr unterschiedliche Strömungen.

Man darf aber nicht vergessen: Hinter der Hisbollah steht natürlich der Iran. Das heißt, wenn der Iran sehr viel Druck auf Hisbollah-Chef Nasrallah ausübt, dann ist es sehr, sehr wahrscheinlich, dass die Hisbollah eingreifen wird. Und das wäre eine Art von Worst-Case-Szenario für Israel, weil es dann an vielen Stellen einen Zweifrontenkrieg geben würde. Ich vermute, dass Israel deswegen jetzt gerade die Grenzstreifen zum Südlibanon bombardiert und mit taktischen Schlägen auch in Syrien regelmäßig angreift, um dort einen möglichen Aufmarsch der Hisbollah zu unterbinden.

Wie könnte es aus Ihrer Sicht mittel- bis langfristig in der Region weitergehen?

Das wird äußerst schwierig. Auf der einen Seite treten in Israel wegen der rechtslastigen Regierung enorme Spannungen nochmals zutage. Ich glaube, dass das intern zu sehr großen Verwerfungen führen wird und sich die Regierung Netanjahus – für mich übrigens eher ein Opportunist, denn ein Ideologe – nicht mehr lange halten wird. Selbst dann nicht, wenn es zu einem Waffenstillstand mit der Hamas kommt.

Ich glaube nicht, dass die Regierung in Israel das Ganze überleben wird, weil einfach das Sicherheitsverständnis für die Bevölkerung mit einem Tag fast obsolet geworden und dies gleichzeitig ausgerechnet unter einer ultranationalistischen Regierung passiert ist.

Wie es ansonsten in der Region weitergeht, hängt jetzt unter anderem von den Saudis und den Amerikanern ab. Das, was wir gerade in der Nahostregion sehen, ist meiner Meinung nach vor allem das exzellente Werk des US-amerikanischen Außenministers Antony Blinken, der gefühlt innerhalb von zwei Tagen die gesamte Region bereist. Also das ist bemerkenswert, was die Amerikaner dort gerade leisten. Auf der einen Seite sorgen sie für Abschreckung gegenüber dem Iran, aber auch gegenüber der Hisbollah. Auf der anderen Seite versuchen sie dafür zu sorgen, dass die israelische Seite eben nicht mit den radikalsten Mitteln gegen Gaza City vorgeht.

Letztlich wird es wahrscheinlich wieder auf eine Pattsituation hinauslaufen. Eine Beilegung des Konflikts wird es in den nächsten Jahren nicht geben, denn die Lage der Palästinenser in der Westbank und in Gaza City hat sich nicht verändert. Dort wird weiterhin die Hamas Funktionen und Stellen innehaben. Der Kampf gegen die Hamas kann nur gelingen, wenn Staaten wie die Türkei und Katar mitspielen, aber auch Saudi-Arabien und Ägypten Druck ausüben.

Meinen Sie, dass es jemals eine Chance auf Befriedung der Region gibt?

Ich glaube schon. Die Frage ist, wie man radikale und ultranationale Positionen sowohl bei den Palästinensern als auch den Israelis einbinden kann. Meine große Befürchtung ist, dass, solange es diesen radikalen Kurs gibt, es auf beiden Seiten kaum zu keiner Befriedung kommen wird. Für die vielleicht einzige Lösung bräuchte es eine radikale Partei, die wirklich ein Interesse an der Beilegung des Konfliktes hat und gleichzeitig die Palästinenser mit einbindet. Langfristig gesehen, muss es extrem große Eingeständnisse der Israelis geben, nachdem die sehr stark ihre Siedlungspolitik vorangetrieben haben.

Was meinen Sie: Wie wird sich der aktuelle Konflikt auf Deutschland, Europa und weltweit auswirken? Und im Umkehrschluss: Was könnten Deutschland, Europa und die westliche Welt unternehmen, um diesen Konflikt zu befrieden?

Die erste Frage ist etwas einfacher zu beantworten. Wir sehen jetzt schon, dass der Konflikt extreme Auswirkungen auf nahezu die komplette arabisch-stämmige Community hat, insbesondere auch in Deutschland. Wir müssen nur sehen, war gerade in Berlin-Neukölln passiert. Das macht mir ehrlich gesagt ein bisschen mehr Sorge. Und ich finde es auch extrem unschön. Ich wohne selbst in Berlin und ich kenne auch viele Palästinenserinnen und Palästinenser, die absolut moderat sind. Die finden es furchtbar, was die Hamas angerichtet hat. Ich fürchte, dass wir jetzt wieder eine erneute Radikalisierung in unseren Diskursen haben, alle Palästinenser über einen Kamm scheren und sagen, das wieder mal die muslimischen, die arabischen Bürger in unserem Land für Unruhe sorgen. Das gilt übrigens nicht nur für Deutschland. Auch beispielsweise in Frankreich kommt es teilweise zu Islamophobie, zur Unsachlichkeit und Radikalisierung im Diskurs. Sowohl linke Parteien als auch rechte Parteien sind gefragt, halbwegs zur Mäßigung beizutragen.

Gleichzeitig haben wir natürlich eine deutlich höhere Gefährdungslage. Wir sehen jetzt schon, dass das amerikanische Außenministerium eine allgemein global gültige Reisewarnung herausgegeben hat, weil man Angst vor Angriffen auf die US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürger im Ausland hat. Wir sehen das im Irak, wo einige schiitische Milizen in den vergangenen Tagen häufiger US-Amerikaner angegriffen und manche auch getötet haben.

Zur zweiten Frage: Deutschland hat mittlerweile nur noch bedingt Gewicht, auch wenn wir einer der größten Geldgeber für die Palästinenser sind. Wir sind meiner Meinung nach durchaus vorsichtig damit umgegangen, wohin wir Hilfsgelder liefern. Ich weiß, dass die Kritik im Raum steht, dass deutsche Gelder auch indirekt an die Hamas geflossen sind. Meiner Meinung nach ist das Auswärtige Amt aber durchaus sensibel vorgegangen und hat sämtliche Projekte nochmals evaluiert.

Wir können Solidarität zeigen, und wir müssen das gerade auch vor unserem historischen Background. Und wir müssen international und auf völkerrechtlicher Ebene natürlich an der Seite Israels stehen, aber nicht zu jeder Bedingung. Meiner Meinung nach können wir die Siedlungspolitik weiterhin nicht tolerieren, weil sie zum einen völkerrechtswidrig ist und zum anderen Tatsachen schafft, die eine Beilegung des Konfliktes nahezu unmöglich machen.

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