Verteidigungsminister Pistorius besuchte Ende vergangenen Jahres seinen ukrainischen Amtskollegen Rustem Umerov in Kiew. Foto: Yevhen Kotenko/ Avalon

Verteidigungsminister Pistorius besuchte Ende vergangenen Jahres seinen ukrainischen Amtskollegen Rustem Umerov in Kiew. Foto: Yevhen Kotenko/ Avalon

12.02.2024
Jana Puglierin

„Pistorius ist ein einsamer Rufer in der Wüste”

Das Bewusstsein für die Dringlichkeit einer sicherheitspolitischen Wende droht in Deutschland schon wieder zu verpuffen.

Der Schock über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Politik und Gesellschaft in Deutschland wachgerüttelt. Nur wenige hatten damit gerechnet, dass in Europa ein Staatsoberhaupt jemals wieder auf die Idee kommen könnte, einen Nachbarn in revisionistischer Absicht zu überfallen, um territoriale Grenzen durch militärische Gewalt zu verschieben. Der 24. Februar 2022 war eine Zäsur.

Es schien, als hätten Politik und Gesellschaft verstanden, dass die von Scholz verkündete Zeitenwende kein Schockmoment war, der irgendwann wieder vorbeigeht, sondern dass Deutschland dauerhaft mit so fundamentalen Umbrüchen der internationalen Ordnung konfrontiert ist, dass eine Kurskorrektur vonnöten ist.

Doch knapp zwei Jahre später droht die mobilisierende Wirkung des russischen Angriffskrieges und das Bewusstsein für die Dringlichkeit einer sicherheitspolitischen Wende schon wieder zu verpuffen. Je mehr Zeit nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges verging, ohne dass die russische Armee neue Geländegewinne machen konnte, desto mehr wuchs in Deutschland die Überzeugung, dass der Krieg unsere Sicherheit in Deutschland nicht unmittelbar bedroht. Die Ukraine bestimmt nicht mehr jeden Tag die Schlagzeilen. Aus „von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent“ des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung wurde „im mehrjährigen Durchschnitt“.

Während sich die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bei jedem Training und bei jedem Manöver mittlerweile darüber bewusst sind, dass die Übungsszenarien ganz schnell bittere Realität werden können, ist diese Erkenntnis in der restlichen Republik noch nicht angekommen. Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien betonen zurecht, wie wichtig das Konzept der „Gesamtverteidigung“ ist.

Doch dafür braucht es einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft. Der wird von der Politik momentan weder ausreichend kommuniziert, noch im Zusammenspiel der einzelnen Ressorts vorgelebt, geschweige denn im Bundeshaushalt 2024 finanziell hinterlegt.

Dabei käme es jetzt besonders darauf an, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, dass Landes- und Bündnisverteidigung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die nicht nur rein militärisch durch die Bundeswehr erfüllt werden kann, sondern die ressortgemeinsam mit allen Bundesministerien und Ländern erfolgen muss.

Und die die Blaulichtorganisationen ebenso mit einschließt wie die Deutsche Bahn, die Elektrizitätsversorgungsunternehmen oder das örtliche Krankenhaus. Die Deutschen müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, was sie bedroht, und welchen Beitrag sie dazu leisten können, diesen Bedrohungen zu begegnen. Dabei geht es nicht nur darum, die Widerstandsfähigkeit gegenüber bereits bekannten Bedrohungen zu erhöhen. Vielmehr muss eine Grundverfassung erreicht werden, um auch mit solchen Bedrohungen umgehen zu können, deren Existenz heute noch gar nicht bekannt ist.

In diesem Sinne sollte man auch die Äußerung von Verteidigungsminister Boris Pistorius verstehen, Deutschland müsse „umfassend kriegstüchtig“ werden. Doch Pistorius ist ein einsamer Rufer in der Wüste. Wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder davon spricht, die CSU teile ausdrücklich nicht die Zielrichtung, „kriegstüchtig und kriegsbereit zu werden“, oder SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kritisiert, „kriegstüchtig oder kriegsfähig zu werden“, werde „der Komplexität nicht gerecht“, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die deutsche Politik vor allem darum bemüht ist, ihrer Wählerschaft so wenig Zeitenwende-Realität wie nur möglich zuzumuten.

Die Tatsache, dass die planerischen Vorgaben für die zivile und militärische Verteidigung Deutschlands zwei Jahre nach Kriegsausbruch noch immer auf dem Stand von 1989 sind, zeigt, wo die Gesamtverteidigung auf der Prioritätenliste rangiert. Eine wirkliche Zeitenwende wäre es indes, im Kanzleramt einen Koordinator für gesamtgesellschaftliche Verteidigung anzusiedeln und diese zur Chefsache zu machen.

Dr. Jana Puglierin ist Senior Policy Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR) und Leiterin des Berliner Büros. Sie ist zudem Mitglied des Beirats der Bundesregierung Zivile Krisenprävention und Friedensförderung

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