Die Zeitmaschine aus der „Zurück-in-die-Zukunft“-Filmreihe. Foto: JMortonPhoto.com & OtoGodfrey.com

Die Zeitmaschine aus der „Zurück-in-die-Zukunft“-Filmreihe. Foto: JMortonPhoto.com & OtoGodfrey.com

06.09.2022
Von Philipp Kohlhöfer

Russland will expandieren – und wird vielleicht implodieren

Wladimir Putin will zurück ins 19. Jahrhundert. Gebiete gewinnen, auf die Russland angeblich irgendeine Art von historischem Anspruch hat. Aber eine Reise in die Vergangenheit kann auch schiefgehen. Fragt mal Biff Tannen.

Das Kino war in der Nähe des Bahnhofes. Der Laden war voller Amerikaner, denn in meinem Heimatort gab es fünf Kasernen. Es war aufregend, aber nicht halb so spektakulär wie das, was kam: Zwei Stunden später wusste ich, dass man besser nicht in die Zeitläufe eingreift. Ich war zehn Jahre alt und wir hatten „Zurück in die Zukunft“ gesehen.

Wenn man einmal versucht, nachträglich die Geschichte zu verändern, das habe ich zwischen Popcorn und Cola gelernt, kann man sich in ihr leicht verfahren. Da kann es zum Beispiel passieren, dass man nach 1955 reist, einen Schläger namens Biff Tannen trifft, der den eigenen Vater terrorisiert, und die Mutter mit einem ausgehen will. Oder, frei nach Marty McFly: Man versucht, das Russische Reich wiederauferstehen zu lassen, nimmt aber eine falsche Abfahrt und kommt dann nicht nach 1910, sondern landet 1470. Ist das der Fall, besteht Russland aus nichts als einer Insel um Moskau.

Und die Frage ist: Kann das tatsächlich passieren?

Das Zeitalter der Imperien ist vorbei. Das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn, die Kolonialreiche Großbritanniens und Frankreichs und die Sowjetunion: alle zerfallen. Nur ist Russland auch nichts anderes als ein Imperium. Dutzende verschiedene Ethnien und Sprachen sind in den Grenzen der Russländischen Föderation vereint. Freiwillig mitgemacht hat allerdings niemand. Die Expansion Russlands war das, was auch heute in der Ukraine versucht wird: ganz klassischer Imperialismus.

Nun hilft der, mitunter Gebiete zu gewinnen und sie einzugliedern, aber das Erfolgsgeheimnis großer Verwaltungseinheiten – denn nichts anderes ist ein Staat – liegt langfristig darin, Güter so zu verteilen, dass die meisten Einwohner das Gefühl haben, zu profitieren. Das gilt sowohl für Materielles als auch für Kulturelles und Ideelles. Wohlstand wird Russland aber eher nicht retten. Das Land hat ein Bruttosozialprodukt, das, rechnet man es pro Kopf um, 2020 laut Weltbank global für Platz 66 reicht – das ist zwischen Bulgarien und Malaysia.

Während eine kleine Elite, fast alle aus Sankt Petersburg und früher mit dem KGB verbunden, reich und mächtig ist, versinkt das restliche Land in Armut. Die Provinzen bekommen keinen Reichtum durch die Bodenschätze, sondern in letzter Zeit vor allem: Särge. Die überwiegende Mehrzahl der in der Ukraine Gefallenen kommt eben nicht aus Moskau und St. Petersburg. Gut möglich, dass in den Provinzen mal jemand auf die Idee kommt, dass das kein besonders guter Deal ist. Zumal die Peripherie mittlerweile bessere ökonomische Verbindungen nach Südkorea und China als nach Moskau hat. Von Wladiwostok bis in die russische Hauptstadt sind es über 9000 Kilometer, nach Seoul knapp 740 und nach Peking 1300. Die ökonomische Kolonisation Sibiriens durch China ist ohnehin bereits im Gang. Es ist auch nicht so, dass es noch nie eine Unabhängigkeitsbewegung gab. Nach dem Ersten Weltkrieg sagen sich Teile Sibiriens kurz von Russland los, werden dann aber wieder erobert.

Und auch zu Beginn der 1990er sind die zentrifugalen Kräfte in Russland sehr groß. Im Zuge des Zerfalls der UdSSR erklären sich Sibirien, der Ural, Karelien und Tatarstan für unabhängig von Moskau. Das ist so konkret, dass die „Nordasiatischen Vereinigten Staaten“ sich eine eigene Fahne und ein Wappen geben und eine Polizei mit Zollhoheit schaffen. Sogar eigenes Geld wird bereits gedruckt. Boris Jelzin, damals russischer Präsident, löst das Problem durch bilaterale Verträge zwischen der Zentrale und den Abwanderungswilligen.

Als die Verfassung der Russländischen Föderation im Dezember 1993 verabschiedet wird, macht sie aus dem Land einen Bundesstaat. Der umfasst 22 Republiken, neun Regionen und ein paar autonome Gebiete. Die Republiken bekommen das Recht, ihre eigenen Regierungschefs zu wählen. Sie bekommen eine eigene Flagge. Eigene Präsidenten. Eine eigene Verfassung. Ein eigenes Budget und das Recht, selbst darüber zu entschieden. Fast wie ein unabhängiges Land, nur innerhalb der Grenzen des Imperiums. Im Gegenzug treten sie nicht aus Russland aus. Die Vereinbarungen funktionieren bei fast allen, aber die Tschetschenen wollen nicht mal das – was folgt, ist bekannt.

Blöde Idee mit hehrem Anspruch

Nun ist die die überwiegende Mehrheit der Bewohner im Kaukasus moslemisch geprägt, eine spirituelle Bindung zur russisch-orthodoxen Kirche und der von ihr promoteten Idee der „russischen Welt“, Russkij Mir, liegt da nicht unbedingt auf der Hand. Der Zar ist auch schon länger Geschichte – und das ist für die Völkerverbindung nicht optimal, denn von dem konnte man sich immerhin einreden, dass er in der Reihe der Herrscher von Konstantinopel steht und so die Völker eines Imperiums verbindet. Der Sozialismus, der zwar insgesamt eine blöde Idee war, hatte zumindest einen hehren Anspruch, auf den man sich völkerverbindend einigen konnte.

Auch politisch bleibt da nicht mehr viel, denn faktisch ist die Russische Föderation heute nur noch dem Namen nach eine Föderation. Der Kreml hat die Eigenverantwortung der Republiken in den letzten Jahren immer mehr abgebaut und zugleich die Russifizierung der Regionen vorangetrieben. Geschichte wiederholt sich nicht, aber manchmal kommt sie sich schon sehr nahe. Wie Wladimir Putin lenkt auch Zar Nikolaus II. die Spannungen des Zarenreiches nach außen ab. Die Expansion im Osten führt schließlich zum Krieg mit Japan – den das Zarenreich nicht übersteht. Zwölf Jahre nach der Niederlage 1905 hört das Land auf zu existieren. Oder 1979. Die Sowjetunion ist in inneren Widersprüchen gefangen und steht kurz vor dem Staatsbankrott. Nach dem NATO-Doppelbeschluss im Dezember 1979 ist man in Moskau davon überzeugt, dass sich Afghanistan nach dem kurz zuvor erfolgten Putsch dem Westen annähern könnte. Ein schneller Krieg, das ist der Plan, und alle Probleme sind gelöst. Und auch hier: Zwölf Jahre später hört das Land auf zu existieren.

Für das Zarenreich wie auch für die UdSSR gilt am Ende: Es mangelt nicht nur an Materiellem, sondern auch an einer Zukunftsvision. Es gibt schlicht keine Idee mehr, welche Richtung das Land einschlagen soll – ohne die Existenz des gesamten Staatswesens zu gefährden. Weil große Reformen gleichzeitig das System zerstören, sind sie ausgeschlossen. Und für Putins Russland gilt das eben auch: Es gibt eine komplette Reformunfähigkeit, weil das die Basis der eigenen Macht untergräbt. Weil es in Russland heute ökonomisch und politisch nichts zu verteilen gibt, oder besser: in ganz wenige Taschen verteilt wird, braucht es eine Idee. Eine Zukunftsvision, für die man den ganzen Kram macht.

2011 betritt ein neuer Darsteller die Bühne. Clap your hands for: der Nationalismus. Den extremen Nationalismus, der gerade eine Überdrehung nach der anderen schlägt, und ständig alle mit dem Atomkrieg bedroht, gibt es in dieser Form erst, seit die (damals) wachsende Mittelklasse politische Reformen fordert – nachdem die russischen Parlamentswahlen gefälscht werden. Weil 2011 nicht reformiert werden kann, braucht es etwas, das es in autokratischen Regimen immer gibt, wenn der Druck auf dem Kessel steigt: ein Ventil. Nun hat Nationalismus aber ein paar Nachteile. Wertet man seine eigenen Leute auf, wertet man die anderen ab, geht gar nicht anders. Bei denen, die keine Russen sind, stärkt das zumindest nicht die Bindung an das Land. Nationalismus ist darüber hinaus keine Einbahnstraße. Gerade dann, wenn Nationalismus befeuert wird, könnte das auch den Nationalismus der anderen Völker innerhalb Russlands antreiben.

Was genau soll Moskau tun, wenn morgen zum Beispiel Tatarstan die Unabhängigkeit erklärt? Eine Atombombe einsetzen? Eine Abspaltung Tatarstans wäre jedenfalls nichts Neues. Einerseits gibt es dort eine starke eigene Identität, andererseits eine gewisse Tradition. Bisher hat sich das Land dreimal für unabhängig erklärt: 1917, 1990 und 2008. Und wenn die Tartaren ihren eigenen Staat ausrufen, warum sollen sie die Einzigen bleiben? Zumal die Beispiele vor der Tür liegen: Kasachstan und Usbekistan sind unabhängige Staaten. Welchen Grund soll es geben, dass es für die Regionen wie etwa Baschkortostan nicht auch möglich ist. Beide Staaten sind genug entwickelt, damit das funktionieren kann: Sie haben eine staatliche Infrastruktur, eine eigene Sprache, genug Bevölkerung und eine okay Ökonomie. Baschkortostan hatte sogar eine eigene staatliche Fluglinie.

„Putin ist schlicht ein Apparatschik aus dem KGB.“

Russland hat Putin, den neuen Zaren. Der hat allerdings das Problem, dass seine Rolle nicht historisch hergeleitet werden kann wie bei den Romanows. Er ist schlicht ein Apparatschik aus dem KGB. Daraus ergibt sich aber kein natürlicher Nachfolger. Und so wird Wladimir Putin, wenn er denn stirbt, ein System hinterlassen, das auf ihn zugeschnitten ist – ohne ihn. Und wenn ihm jemand nachfolgt: Warum sollen die anderen, die ja mit der gleichen Berechtigung auch Nachfolger sein könnten, den Neuen akzeptieren? Diktaturen ohne Diktator sind immer eher unstabil. In der Sowjetunion gab es ein Politbüro, das jemanden auswählen konnte. Breschnew war nicht die Sowjetunion und Andropow auch nicht – für die russische Propaganda liegen die Dinge allerdings anders. Wjatscheslaw Wolodin, Sprecher der Duma: „Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Ohne Putin kein Russland.“ Wenn man der eigenen Wahrnehmung Glauben schenkt, dann ist das eine ziemlich große Fallhöhe. 

Ist es da nicht wahrscheinlich, dass die potenziellen Nachfolger erstmal ihre Macht konsolidieren müssen? Aber dafür benötigt es Militär. Das sich aber gerade in der Ukraine selbst schwächt – und das dann vermutlich Besseres zu tun hat, als irgendwo in der Provinz Pferdezüchter zu unterdrücken. Denn nach Putins Tod liegt der Hauptgewinn nicht in Kasan oder Jekatarinenburg. Der Preis ist Moskau. Aber dann ist keiner mehr in der Provinz, um sie zu kontrollieren. Und auch die Infrastruktur verbindet das Land nicht. Im Gegenteil, sie zerfällt. Und das wird sie in Zukunft aufgrund der Sanktionen schneller tun. Das bedeutet, dass die Fliehkräfte zwischen den Provinzen und der Zentrale zunehmen werden. Der Ferne Osten wird dann zwangsläufig sein eigenes Ding machen – weil Moskau nicht mehr erreichbar ist. Viel Erfolg bei dem Versuch, mit dem Flugzeug durch das Land zu kommen, wenn Airbus und Boeing keine Ersatzteile mehr liefern.

Russland und die UdSSR haben die gleichen Probleme: Krieg, eine abstürzende Ökonomie, eine Gerontokratie, die das Land regiert und es gedanklich nicht in die Gegenwart schafft. Warum sollen sie nicht auch das gleiche Schicksal teilen? Kann nicht passieren? Kann sein. Andererseits: In der Weltgeschichte passiert ständig irgendetwas, das alle überrascht – und im Nachhinein merkt dann jeder, dass die Anzeichen deutlich waren.

Marty McFly schafft es schließlich, dass seine Eltern sich ineinander verlieben. Er kommt zurück nach 1985 – um zu erfahren, dass die Geschichte ähnlich weitergeht, aber im Detail eben doch anders: Biff Tannen, der Schläger, ist jetzt ein kleines Licht, das nichts mehr zu melden hat.

Philipp Kohlhöfer ist Politologe. Er schreibt Essays und Reportagen und vergleicht Weltpolitik gerne mit Kinofilmen.

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