Sönke Neitzel vertritt den Standpunkt, dass die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Rolle der Artillerie unterschätzte. Ein Fehler, den auch die junge Bundeswehr beging. Foto: Bundeswehr/Strack

Sönke Neitzel vertritt den Standpunkt, dass die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Rolle der Artillerie unterschätzte. Ein Fehler, den auch die junge Bundeswehr beging. Foto: Bundeswehr/Strack

14.11.2020
Von Professor Sönke Neitzel

Von Mythen und Wahrheiten

Im Mai 1958 wusste der Westberliner „Tagesspiegel“ zu berichten, dass die militärgeschichtliche Abteilung der israelischen Armee eine Umfrage unter 1000 Militärspezialisten durchgeführt habe. Die Leistungsfähigkeit und das Ansehen der Wehrmacht würden dadurch eindrucksvoll unterstrichen. Von möglichen 100 Punkten hätten die deutschen Soldaten 93 erhalten und damit international den mit Abstand besten Wert erreicht.

In den folgenden Jahren schwirrte diese Meldung immer mal wieder durch die Publizistik. Gleichwohl gibt es bis heute keinen Beleg, dass eine solche Befragung wirklich stattfand. Der Artikel erschien aber plausibel, entsprach der Kern der Botschaft einer schon damals populären Meistererzählung von der Wehrmacht als einer vermeintlichen Superarmee. Briten und Amerikaner waren daran eifrig beteiligt, um ihren Sieg umso größer erscheinen zu lassen. Und in der Bundesrepublik war nach Niederlage, Verbrechen, Tod, Vertreibung und Teilung die von vielen beschworene militärische Professionalität der deutschen Truppen einer der wenigen Bezugspunkte aus der jüngsten Vergangenheit, denen man noch etwas Positives abgewinnen konnte. Es kam nicht von ungefähr, dass die Bücher von Paul Carell über den Feldzug in Nordafrika, die alliierte Landung in der Normandie und den Krieg in der Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren Millionenauflagen erreichten. Von Verbrechen und Vernichtungskrieg war darin ebenso wenig die Rede wie von der Katastrophe des letzten Kriegsjahres, als das NS-Regime und seine Militärführung in einem widersinnig gewordenen Kampf Millionen Soldaten opferten. Carell sprach mit seinen Büchern jene Leser an, deren Identität an ein positives Bild der Wehrmacht gebunden blieb – und das waren nicht wenige.

Ins selbe Horn stieß auch die junge Bundeswehr. Obgleich die Alliierten bekanntermaßen den Krieg gewonnen hatten, kultivierten die kriegsgedienten Bundeswehrgeneräle ein bemerkenswertes Überlegenheitsgefühl, das sich aus dem Stolz speiste, einst alle Armeen Europas geschlagen zu haben.  Eine systematische Auswertung von taktischen und operativen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Bundeswehr allerdings nicht. Generalinspekteur Adolf Heusinger riet 1959 schlicht dazu, jene Studien zu lesen, die ehemalige deutsche Stabsoffiziere für die Historical Division der US Army geschrieben hatten. Doch diese waren naturgemäß einseitig, weil die Verantwortlichen von einst kaum die Richtigen waren, um das eigene Denken und Handeln kritisch aufzuarbeiten. Da sich die Wehrmachtakten noch in der Hand der Alliierten befanden, erfolgte der Wissenstransfer über die jüngste Vergangenheit über Memoiren und über jene Veteranen, die in den neuen Streitkräften Karriere machten.

Doch was hatten die neuen Führungskräfte eigentlich im Zweiten Weltkrieg erlebt? Es lohnt sich, all jene kriegsgedienten Soldaten genauer zu betrachten, die in der Bundeswehr in den Generalsrang aufstiegen und die Institution in besonderer Weise prägten. Diese Gruppe umfasste beim Heer 466 Personen. 29 Bundeswehrgeneräle der Jahrgänge 1894 bis 1900 hatten im Zweiten Weltkrieg nicht mehr an der Front gekämpft, sondern waren zuvor schon in höhere Stabsfunktionen, vor allem beim Oberkommando des Heeres, aufgerückt. Auch die 179 Männer der Jahrgänge 1901 bis 1914 waren vor allem in Stabsfunktionen eingesetzt gewesen. Die Hälfte von ihnen hatte ihre Kampferfahrungen in der Phase der Siege gemacht, und nur rund zehn Prozent waren 1943/45 noch in Frontkommandos eingesetzt. Und selbst bei der Jahrgangskohorte 1915-1920 erlebte nur ein Fünftel die Zeit ab 1943 bei den Kampftruppen. Viele andere befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon in rückwärtigen Verwendungen oder kurierten in Lazaretten ihre Verwundungen aus. Rund die Hälfte aller kriegsgedienten Bundeswehrgeneräle, die ab 1943 noch Frontkommandos innehatten, waren zudem Angehörige von Panzer- und Panzergrenadierverbänden. Diese erhielten den besten Nachwuchs, waren oft noch gut ausgestattet und konnten sich am ehesten gegen die alliierten Truppen behaupten. Von der Ohnmacht der vielen schlecht ausgerüsteten Infanteriedivisionen hatten die meisten späteren Bundeswehrgeneräle keine Vorstellung. Echte „Frontschweine“, also Männer, die viele Jahre in unmittelbarer Nähe der Hauptkampflinie überlebt hatten, gab es unter den 466 kriegsgedienten Heeresgenerälen gerade einmal ein gutes Dutzend.

Die desaströsen Niederlagen der zweiten Kriegshälfte waren also nur abgefedert in den Führungsetagen der Bundeswehr präsent. Dass seit Mitte 1943 alle Angriffe gegen die Westalliierten kläglich scheiterten, dass die Wehrmacht zumindest im Kampf gegen Briten und Amerikaner den Artilleriekrieg verlernt hatte, dass die Beweglichkeit gegen die Feuerkraft der Gegner seit Mitte 1943 nur wenig ausrichten konnte, dass es nicht gelang, die Taktik an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen, dass es um die Führungsfähigkeiten der schnell ausgebildeten Generalstabsoffiziere oft nicht zum Besten stand, dass die schwindende Professionalität horrende Verluste zur Folge hatte  – eine nüchterne Betrachtung all dieser Erfahrungen fehlte.

Zugespitzt formuliert, kam die Bundeswehr-Generalität über weite Teile des Kalten Krieges nicht über das Narrativ von Paul Carell hinaus, der die letzte Kriegsphase ausblendete und seine Leser mit allzu bitteren Schlussfolgerungen verschonte. Fridolin von Senger und Etterlin war einer der wenigen ehemaligen hohen Wehrmachtoffiziere mit Einfluss, der schon 1951 vor falschen Schlüssen aus der Vergangenheit warnte: „Die von der deutschen Generalität vielfach vertretene [...] Theorie, dass der kräftemäßig verlorene Krieg durch Rückzüge und Wiedererlangung der Bewegungsfreiheit noch hätte gewonnen werden können, gehört in das Gebiet der Verkennung des wahren Wesens moderner Kriege, der Selbstüberschätzung und damit auch der gefährlichen Legendenbildung, als daraus falsche Schlüsse in Bezug auf die Aussichten, einen einfallenden Ostgegner mit unterlegenen Kräften abzuwehren, gezogen werden könnten.“ Senger war 1950 an der Himmeroder Denkschrift beteiligt, Mitglied im Personalgutachterausschuss und im Beirat für Innere Führung. Für den aktiven Dienst war er aber zu alt und starb schon 1963. Seine Mahnung ging im Chor der verklärenden Stimmen unter.

Das operative Geschäft versahen andere und die Überzeugung, im konventionellen Kampf die zahlenmäßige Überlegenheit des Warschauer Paktes mit einer besseren Führungskunst ausmanövrieren zu können, gehörte fest zur Identität der Bundeswehr. Ob sie diese Überlegenheit in den Jahren des Kalten Krieges wirklich je erreichte, wird sich kaum schlüssig belegen lassen und ist bis heute vor allem eine Glaubensfrage.

Die Nato und der Warschauer Pakt hatten gleichwohl eine hohe Meinung von der Leistungsfähigkeit des Heeres. Dies lag zweifellos auch daran, dass die Bundeswehr viel vom militärischen Handwerkszeug der Wehrmacht übernahm und auch die lange Tradition von Auftragstaktik und preußischem Generalstabsdenken fortsetzte. Die andere Seite der Medaille war allerdings, dass kaum jemand den Nimbus „verlorener Siege“ von einst in Frage stellte. Die Verbrechen der Wehrmacht wurden nicht groß thematisiert, aber auch manche militärische Fehlentwicklung fand in der Bundeswehr ihre Fortsetzung, so etwa die chronische Artillerieschwäche.

Bei den Alliierten war der Mythos der Wehrmacht übrigens noch wirkungsmächtiger: Im Mai 1980 lud das US Army War College gar den 86-jährigen Hermann Balck zu einem Symposium nach Pennsylvania ein. Der ehemalige Panzergeneral und einstige stramme Nationalsozialist wurde dort als einer der „most distinguished living commanders of forces in battle“ begrüßt. Der hochbetagte Balck nahm an einem Kriegsspiel zur Verteidigung des Fulda Gap teil und es entwickelte sich ein lebhaftes Fachgespräch mit der US Generalität. Im deutschen Heer hatte man seinen Rat hingegen nicht mehr für notwendig gehalten.

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