Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert beim Jugendforum Sicherheitspolitik in Berlin: „Könnt ihr euch vorstellen, dass das, was ihr da seht, auch in Deutschland stattfindet?“ fragt der stellvertretende Bundesvorsitzende des DBwV mit Blick auf die Ukraine. „Ist unsere Demokratie wehrhaft mit 182.000 Soldatinnen und Soldaten? Gibt es hier die Bereitschaft, die Kampfmoral, zur Waffe zu greifen? Und wenn ja: wann? Wenn die Ukraine bedroht ist? Wenn Polen bedroht ist? Wenn Deutschland bedroht ist? – Keine Ahnung, würde gern mal hören, was ihr dazu meint.“ Foto: Frank Schauka

11.09.2022
Von Frank Schauka

Wer kämpft für Deutschland? – Wir alle!

Der stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, war als „Special Guest“ beim Jugendforum Sicherheitspolitik in Berlin.

Der Tag ist weit vorangeschritten, bald ist Wochenende. Der Regen schleicht sich fristgerecht von dannen, und drinnen, im Hotelfoyer, nimmt das Buffet allmählich Formen an. Doch noch geht es um Krieg.

„Wer kämpft für Deutschland?“ Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, der dies fragt, steht kerzengerade vor mehr als hundert jungen Erwachsenen, die hier in Berlin-Dahlem eines verbindet: ihr großes Interesse für Sicherheitspolitik. Sie sind, kurzgefasst, die Richtigen, um beim Jugendforum für Sicherheitspolitik 2022 mit dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes über Sicherheits- und Verteidigungsthemen zu debattieren.

„Wer kämpft für Deutschland? Ja wer...?“ fragt Afghanistan-Veteran Bohnert, Jahrgang 1979. Er wollte, wie er auf Nachfrage sagt, Soldat werden, weil er 1994 im Fernsehen Bilder vom Völkermord in Ruanda sah. Ruanda: Das ist die Chiffre für etwa ein Million getötete Menschen. Unter den Augen der Vereinten Nationen. Erschlagen die meisten, in 100 Tagen! Er habe seine Berufswahl nie bereut, sagt Marcel Bohnert. „Sehe ich unzufrieden aus?“

„Die Bundeswehr“, so lautet die prompteste Antwort auf Marcel Bohnerts Wer-kämpft-für-Deutschland-Frage. „Diplomaten, weil sie sich auf nicht-militärischer Ebene um die Außenpolitik kümmern“, lautet eine nächste Antwort. Oder: „Das Technische Hilfswerk“ – mit Verweis auf die Katastrophenhilfe nach der Flut im Ahrtal 2021. Und: „Politiker, die im Parlament für die besten Lösungen kämpfen.“ Auch die, sagt Bohnert. Nächste Antwort: „Nachrichtendienste, die im Hintergrund die Vorarbeit leisten, damit die Bundeswehr sicher agieren kann.“ Die Feuerwehr, weil sie täglich für uns im Einsatz ist; die Verfassung, weil sie unsere Werte schützt; die Klimaretter mit globalem Denkanspruch; die Wissenschaft; die Pflegekräfte; die Gerichte...

„Wir alle!“, hätte Marcel Bohnert gern explizit gehört.

Ebenfalls nicht spontan genannt als „Kämpfer für Deutschland“ wird – überraschenderweise – die Ukraine. Zwar betont Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Monaten, dass sein geschundenes Land auch die Demokratie sowie die westliche Werte verteidige, doch es handelt sich offensichtlich nicht um eine Wahrheit von 1.-Reihe-Präsenz.

Ein Teil der Wahrheit, die es gibt, stellt sich auf der Leinwand hinter Marcel Bohnert dar. Vor einem tristen Wohnblock irgendwo in der Ukraine stehen ein maskierter Soldat und ein gutes Dutzend junger Männer und Frauen. Der Soldat im Tarnfleck, vorn im Bild zu sehen, hält in seinen Händen ein MG. Die jungen Leute hinter ihm posieren mit MG-Attrappen aus Holz. Es ist ganz offensichtlich ein militärisches Training.

Die Fragen, die Marcel Bohnert vor dem Hintergrund des Leinwandfotos stellt, sind keine Attrappen. „Könnt ihr euch vorstellen, dass das, was ihr da seht, auch in Deutschland stattfindet?“ Und: „Ist unsere Demokratie wehrhaft mit 182.000 Soldatinnen und Soldaten?“ Und: „Gibt es hier die Bereitschaft, die Kampfmoral, zur Waffe zu greifen? Und wenn ja: wann? Wenn die Ukraine bedroht ist? Wenn Polen bedroht ist? Wenn Deutschland bedroht ist? – Keine Ahnung, würde gern mal hören, was ihr dazu meint.“

Ein junger Mann antwortet ins Saalmikrofon dies: Eine Reaktion wie in der Ukraine wäre wünschenswert, „aber wir haben nicht das Bewusstsein dafür.“ So zögerlich, wie Deutschland Waffen an die Ukraine liefere, glaube er nicht, dass Deutschland eine Kultur für Selbstverteidigung besitze wie die Ukraine.

Aber, sagt der junge Mann: „Wenn es hier Krieg gibt in Deutschland, wird sich alles ändern. Dann ist vieles möglich.“

Marcel Bohnert fragt direkt zurück: „Wie groß muss die Distanz sein, bis sich deine Einstellung ändern würde?“

Antwort des jungen Mannes: „Bis der Krieg bei einem vor der Haustür ist.“

„Danke für die ehrliche Antwort“, sagt Marcel Bohnert und skizziert das daraus erwachsende Problem; es ist ein Zeit-Problem: Jahre könnten vergehen, bis so viel Widerstandskraft erwachsen sei, um einem Angriff standzuhalten.

Im Baltikum stellt die Truppe jetzt "echte Verteidigungsfähigkeit" her

So fürchterlich Russlands Krieg gegen die Ukraine ist, bei der NATO, bei der Bundeswehr hat er ein Umdenken in Gang gesetzt. Im Baltikum – wo die Bundeswehr bislang allenfalls eine „Stolperdraht-Funktion“ ausgeübt hatte, doch niemals in der Lage gewesen wäre, eine russische Invasion zu stoppen – werde die Truppe nun derart verstärkt, dass eine „echte Verteidigungsfähigkeit“ hergestellt werde, sagt Marcel Bohnert. „Jetzt machen wir es robust. Wir gliedern die gesamte Bundeswehr um, wir stellen massiv Kräfte auf, um in den nächsten Jahren eine echte Fähigkeit in die NATO zu bringen und die NATO mit mehreren 100.000 Soldaten sehr, sehr schnell einsatzfähig zu machen.“

Ob dies die Ukraine vor dem Nieder-, dem Untergang bewahrt, ist eine andere Frage.

Noch ist die Zustimmung der deutschen Bevölkerung für das 100 Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr offenbar groß. „Aber ich habe Sorge, dass die Zustimmung nach und nach verschwindet“, sagt Bohnert. Die Aufmerksamkeitsspanne, aus dem die Ukraine ihre Verteidigungsfähigkeit schöpfe, sei begrenzt. Wenn die Folgen des Krieges im eigenen Portemonnaie spürbar würden, sei sogar zu befürchten, dass es dann heiße: Müssen wir wirklich die Ukraine so massiv unterstützen? Können wir nicht die Sanktionen gegen Russland lockern, so dass wir gut durch diesen angekündigt düsteren Winter kommen?

Höhere Verteidigungsausgaben sind bei jüngeren Menschen unbeliebt

Besonders unbeliebt sind hohe Verteidigungsausgaben offenkundig bei der jüngeren Bevölkerung in Deutschland. Nach einer repräsentativen Umfrage von PricewaterhouseCoopers (PwC) sagten 38 Prozent der über 60-Jährigen, sie befürworteten Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Von den unter 30-Jährigen bejahten nur 22 Prozent diese Frage.

Deutliche Unterschiede stellt die PwC-Studie auch beim Bedrohungsempfinden gegenüber Russland fest. „Unter den jüngsten Befragten, den 18- bis 29-Jährigen, empfinden 56% Russland als Gefahr für die eigene Person. Bei den 40- bis 49-Jährigen sind es dagegen 69%. Das sind sogar mehr als bei den 50- bis 59-Jährigen (63%)“, heißt es in der Studie.

Die Teilnehmenden des Jugendforums, die an diesem Abend mit Marcel Bohnert diskutieren, sehen dies offenbar anders. „Wir müssen uns als deutscher Staat für unsere Demokratie wehren“, sagt eine junge Frau.

„Genau meine Sicht“, antwortet Oberstleutnant i.G. Bohnert. „Die Bundeswehr hat ein tolles Ansehen als Arbeitgeber. Aber aus irgendwelchen Gründen geht man nicht zur Bundeswehr. Die Zahlen sinken seit Jahren.“

Auch der Ukraine-Krieg ändert daran nichts. Anders als in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gebe es in Deutschland seit dem 24. Februar 2022 „keinen patriotischen Effekt“, sagt Bohnert. „Ich habe es vermutet, aber es ist nicht der Fall. Aufgrund der Ukraine gibt es nicht spürbar mehr Interessenten an der Bundeswehr, die sagen, wir wollen unser Land mit der Waffe verteidigen.“

Das hat es aber alles schon gegeben, und das ist gar nicht lange her.
„Klick“, sagt Bohnert: neues Bild, aus Afghanistan. „Ich zeige euch, dass es durchaus junge deutsche Menschen gibt, die im Krieg und im Kampfeinsatz waren, einer davon bin ich.“

Klick, neues Bild: „Schützenpanzer Marder, unsere rollende Festung, wie wir sie genannt haben... Im Panzer bis zu 80 Grad“.

Klick, neues Bild: „Unser Auftrag war, Vertrauen zur Bevölkerung aufzubauen, ein friedliches Umfeld zu schaffen.“

Klick: „Alles Soldaten, die damals in eurem Alter waren... hatten sich bewusst für den Dienst an der Waffe entschieden.“

Klick: „Angesprengte Aufklärungspatrouille, mittelschwer verwundete deutsche Soldaten, haben wir geborgen.“

Klick: eine Autotür auf staubigem Boden, ein Jahr nach dem Karfreitagsgefecht mit drei gefallenen Soldaten bei Kundus entdeckt, liegt jetzt in der Kaserne der toten Soldaten, Erinnerungsstück... (Der Bericht zur „Operation Tür“ ist hier nachzulesen.)

92.000 Männer und einige Frauen der Bundeswehr haben ihren Dienst in Afghanistan geleistet. „Für mindestens 6000, die die Gefechtsmedaille der Bundeswehr erhalten haben, war es Kampf“, sagt Marcel Bohnert. „Menschen, die jetzt irgendwo in der Bevölkerung unterwegs sind und versuchen, ihr normales Leben zu leben, oder die immer noch Soldaten sind oder die vielleicht traumatisiert sind.“

Bohnerts Wunsch: Mehr gesellschaftliche Wertschätzung für Veteranen

Der große Abschlussappell 2021 sei „für die Afghanistan-Veteranen eine wichtige und wesentliche Veranstaltung“ gewesen, „sehr schön“, sagt Bohnert, er gehörte auch zu den 300 im Berliner Bendler-Block.

„Rückkehrer wollen nicht hier mit Applaus am Flughafen begrüßt werden oder Privilegien erhalten“, sagt Bohnert. „Aber allein das Wissen darum, dass es diese Menschen hierzulande gibt, die sich in einer Parlamentsarmee unter Einsatz ihres Lebens in eine Kampfzone begeben haben, und die nicht indifferente Einstellung dazu ist uns Soldatinnen und Soldaten sehr viel wert.“

Klick: „So sahen die aus: junge Leute, die Mitte 2011 einfach mal für sechs, sieben Monate von zu Hause verschwunden sind. In der Hochphase des Afghanistan-Einsatzes waren 10.000 Soldaten gleichzeitig im Einsatz.“

Applaus und Dank. Die Zeit verging wie im Flug. Ein Kamerateam bittet Marcel Bohnert nun zum Interview. Einige der jungen Damen und Herren aus dem Zuhörerkreis warten bereits. Dann setzen sie das Gespräch mit Marcel Bohnert, nun in kleinerer Runde, fort. Das Buffet muss warten.

Den Video-Mitschnitt des Vortrages von Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert finden Sie hier.

Weitere Informationen zum Jugendforum Sicherheitspolitik 2022 finden Sie hier.

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