Der SPD-Politiker Wolfgang Hellmich, seit 2015 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, spricht im Interview über die Haltung seiner Partei zu bewaffneten Drohnen, über die materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und über den Afghanistan-Einsatz. Foto: picture alliance/dpa/Michael Kappeler

Der SPD-Politiker Wolfgang Hellmich, seit 2015 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, spricht im Interview über die Haltung seiner Partei zu bewaffneten Drohnen, über die materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr und über den Afghanistan-Einsatz. Foto: picture alliance/dpa/Michael Kappeler

18.01.2021
DBwV

Wolfgang Hellmich im DBwV-Interview: „Die Drohnen-Debatte ist in der Mitte der Gesellschaft zu führen“

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hellmich (62) ist seit acht Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages und seit dem Jahr 2015 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses. Der bodenständige Westfale, der viele Jahre als Organisator von Wahlkämpfen und Basisarbeit erfolgreich für die SPD in Nordrhein-Westfalen arbeitete, ist Mitglied im Förderkreis Deutsches Heer. Im Gespräch mit dem Deutschen BundeswehrVerband macht Wolfgang Hellmich deutlich: „Wir verlangen, dass der Soldat das eigene Leben im Auslandeinsatz im Auftrag von Regierung und Parlament einsetzt. Das verpflichtet uns, den Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausstattung zur Erfüllung der Aufgaben und zu seinem Schutz zur Verfügung zu stellen.“

Innerhalb der SPD ringt man seit Jahren um die Bewaffnung von Drohnen. Die Verteidigungspolitiker, aber auch Parlamentarier aus anderen Ausschüssen zeigten Zustimmung an. Jetzt kam es kurzfristig zu dem Entschluss, diese Entscheidung in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu treffen, was den Koalitionspartner, aber auch viele Soldaten fassungslos zurückließ. Können Sie uns erklären, wie es dazu kam?

Wolfgang Hellmich: Die ganze Diskussion in der Gesellschaft, insbesondere auch in meiner Partei, ist in hohem Maße geprägt von der aus meiner Sicht völkerrechtswidrigen Praxis des Drohneneinsatzes der USA, zuletzt angewandt bei der Tötung eines iranischen Generals. Das halte ich für ausgeschlossen, wenn ich an einen Einsatz der Bundeswehr denke. Aber damit einher geht die Diskussion über den Einsatz von Kampfrobotern und autonomen Waffensystemen, die sich der Kontrolle der Menschen entziehen können. Befürchtungen einer Entmenschlichung der militärischen Gewalt oder einer Herabsetzung der Hemmschwelle zum Einsatz bei Drohnen der Bundeswehr teile ich zwar nicht. Denn es ist auch hier immer der Mensch, der den Befehl zum Auslösen der Waffe erteilt. Von großer Bedeutung in der öffentlichen Diskussion ist der massive Drohneneinsatz im Krieg Aserbaidschan gegen Armenien, aber auch der Einsatz von türkischen Drohnen in Libyen oder Drohnenangriffe gegen Ölförderanlagen Saudi-Arabiens. Massive Drohneneinsätze mit neuer technologischer Qualität in Szenarien asymmetrischer Kriegsführung sind ein Problem. Befürchtet wird, dass es durch diese neuen Technologien, insbesondere beim Einsatz kleiner, autonom agierender Drohnen, die um ein Vielfaches billiger sind als große Jets, zu einem neuen Wettrüsten kommt.

Auch die Feststellung, dass unsere Gesellschaft bei diesem Thema tief gespalten ist, spielt da eine Rolle. Hier rächt es sich, dass die öffentliche Diskussion über Auftrag und Ausrüstung der Bundeswehr und damit auch die Bewaffnung der Drohnen nicht stärker öffentlich geführt worden ist. Generell leidet die Debatte um die veränderten Rahmenbedingungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter dem Mangel, dass sie nur von einem „Fachpublikum“ geführt wird. Sie in die Mitte der Gesellschaft zu führen und auch strittige Themen anzusprechen, ist eine erste politische Führungsaufgabe. Und Führung und Verantwortung für die Konsequenzen gehören eben immer zusammen.

Nicht verhehlen will ich meinen Eindruck, dass sich in der Zeit zwischen Verabschiedung des Koalitionsvertrages und heute auch innenpolitisch vieles verschoben hat. Es schien sich seit Ende des Jahres 2019 eine politische Linie durchzusetzen, die auf die Vorbereitung einer schwarz-grünen Koalition hinauslief. Und dazu sollten die noch strittigen Punkte ausgeräumt und noch durch die große Koalition beschlossen werden, die einem schwarz-grünen Bündnis im Wege standen – das waren eben die Beschaffungsentscheidungen für die Tornado-Nachfolge und die Bewaffnung der Drohnen. Das konnte nicht gut gehen!

Sie sind selbst seit Jahren Fachpolitiker, kennen die Diskussion, Beispiele aus der Einsatzwirklichkeit, wie Sie Ihr Kollege Fritz Felgentreu im SPD-Blatt „Vorwärts“ beschrieben hat. Sie haben zum Thema Bewaffnung die letzte Ausschussanhörung geleitet, wo neben anderen Experten auch der DBwV Stellung nahm. Nach all den Jahren auch Ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema – wie ist ihre persönliche Auffassung?

Hellmich: Es hat eine intensive langjährige Diskussion zu den ethischen, rechtlichen und auch sicherheitspolitischen Fragestellungen des Einsatzes bewaffneter Drohnen in Teilen unserer Gesellschaft gegeben, aber eben nur in Teilen. Wir haben es uns im Verteidigungsausschuss nicht leicht gemacht, sondern uns sehr gründlich unter fachlicher Expertise aus unterschiedlichen Bereichen, auch der Wissenschaft, mit dem Thema mehrfach auseinandergesetzt. Wir verlangen, dass der Soldat das eigene Leben im Auslandeinsatz im Auftrag von Regierung und Parlament einsetzt. Das verpflichtet uns, den Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausstattung zur Erfüllung der Aufgaben und zu seinem Schutz zur Verfügung zu stellen. Diesen Schutzauftrag teilen auch diejenigen, die im Moment einer Bewaffnung von Drohnen nicht zustimmen können. Wir haben die Beschaffung einer Drohne beauftragt, die auch bewaffnet werden kann. Und wir haben in den Verhandlungen um die Bewaffnung der Drohnen die Argumente der KritikerInnen aufgenommen, indem zum Beispiel die Steuerung der Drohnen aus dem Einsatzgebiet selbst erfolgt, indem neben den Drohnenpiloten immer RechtsberaterInnen sitzen, die die konkrete Lage und den Waffeneinsatz unter völker- und mandatsrechtlichen Kriterien bewerten, bevor es zu einem Einsatz kommt. Und wir haben dafür gesorgt, dass der Einsatz zu mandatieren ist, also dem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Und wir haben die besondere psycho-soziale Betreuung der Drohnenpiloten vereinbart. Und noch eine ganze Menge mehr! Das schien und scheint mir ausreichend zu sein, um einer Bewaffnung der fünf anzuschaffenden Heron-TP zustimmen zu können. Sogar Vertreter der Grünen äußern, dass sie sich noch mehr Entscheidungsbefugnis des Parlaments gewünscht hätten! Und hätten sie dann zugestimmt?

Auch in der SPD sind viele Zivilbeschäftigte der Bundeswehr sowie Soldaten politisch aktiv. Eine für den Deutschen Bundestag kandidierende Soldatin aus Thüringen fragte zuletzt, wie sie das ihren Kameradinnen und Kameraden erklären solle. Auch Sie sind mit vielen Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigten vernetzt. Wie erklären Sie diese Kehrwende der SPD, den politische Gegner natürlich zu nutzen wissen?

Hellmich: Natürlich ist die Bewaffnung der Drohne im Wahlkampf angekommen, aber da gehört das Thema nicht hin! Aus vielen Gesprächen und Mails, die mich erreichten, weiß ich, dass bei den vielen engagierten Soldaten, die auch SPD-Mitglieder sind, Unverständnis über die Verschiebung der Entscheidung herrscht. Doch viele wissen, die SPD hat es sich noch nie leicht gemacht, wenn es um sicherheitspolitische Grundfragen geht. Denn der massive Einsatz von sogenannten kleinen Killerdrohnen wie in Berg-Karabach, z.B. um die Flugabwehr auszuschalten, zeigt auf, dass der Einsatz und Verbreitung dieser Drohnen eingehegt werden muss und dass es aktuell für die Truppe wichtig ist, die Abwehr von diesen Drohnen im Auslandseinsatz sicherzustellen. Hier erwarte ich Vorschläge aus dem BMVg.

Bisher stieß die Bewaffnung der Drohnen in der Öffentlichkeit nicht auf ein großes Interesse. Als ehemaliger abrüstungspolitischer Sprecher sehe ich durchaus die Notwendigkeit, eine Debatte über das gesamte Spektrum der Drohnen auf Ebene der Vereinten Nationen oder der Nato-Staaten mit den Staaten zu führen, die überhaupt über das technologische Knowhow zur Entwicklung und zum Bau von bewaffneten Drohnen verfügen. Oder glaubt jemand, die Aseris im Konflikt um Berg-Karabach oder die Huhtis beim Angriff auf Saudi-Arabien oder die Syrer hätten die Drohnen selbst entwickelt und gebaut? Der Ansatz unseres Außenministers Heiko Maas ist richtig, durch ein internationales Regime die Weiterverbreitung von Drohnen der entsprechenden militärischen-technologischen Qualität zu verhindern. Eine breite öffentliche Debatte über all diese Fragen kann dazu führen, dass die Gesellschaft sich noch stärker mit der Bundeswehr und ihrer Ausrüstung beschäftigt. Das braucht weitestgehende öffentliche Information. Geradezu kontraproduktiv ist es da, wenn die als Grundlage für Neujustierung der EU-Strategie von den Nachrichtendiensten erstellte Analyse der Bedrohungslage Europas mit dem Hinweis, das sei ja ein Papier der Dienste, im Stahlschrank verschlossen wird. Die Bürgerinnen und Bürger und insbesondere auch die Staatsbürger in Uniform brauchen diese Erklärung, damit sie verstehen, welche Schritte gegangen werden und warum sie selbst wo im Einsatz sind.

Kommen wir zu Fragen der materiellen Einsatzbereitschaftslage. Sie hatten immer betont, dass es nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung, also das Füllen von den durch die letzte Reform erzeugten Lücken geht. Die seitens des BMVg kürzlich medial gesetzte Zahl von 74 Prozent sorgt in der Truppe für Kopfschütteln. Gerade läuft für die nächste VJTF die Operation Läusekamm 2.0 an, heißt, man sammelt für die VJTF Brigade wieder Fahrzeuge, Waffen, Nachtsichtgeräte, Taschenlampen, Bolzenschneider und mehr ein. Können Sie das Kopfschütteln der Truppe nachvollziehen?

Hellmich: Schon jetzt sehen wir ja, dass Material für die Bildung der VJTF innerhalb der Bundeswehr aus verschiedensten Einheiten zusammengezogen werden muss. Ziel sollte weiter sein, dass die VJTF 2023 voll ausgerüstet ist. Nach meiner Bewertung wird die VJTF 2023 zwar wesentlich besser ausgestattet sein als die im Jahr 2019. Aber eine komplette eigenständige Vollausstattung scheint zurzeit nicht erreichbar zu sein, obwohl das Ziel vom BMVG beharrlich ausgegeben wird. Ich sehe bei allen Org-Bereichen weiter einen großen Handlungsbedarf, die Verfügbarkeit der Systeme für Ausbildung und Einsatz zu erhöhen. Aus unserer Sicht ist die Privatisierung hoheitlicher Aufgaben grundsätzlich ein Irrweg. Der Untersuchungsausschuss zu den vergabewidrigen Aufträgen an externe Berater im Verteidigungsministerium zeigt exemplarisch, wohin es führt, wenn private Firmen die Kontrolle in Bereichen des Bundes übernehmen.

Einen großen Erfolg konnten die SPD-VerteidigungspolitikerInnen erringen, als auf unsere Initiative hin die Privatisierung der HIL-Werke durch das Verteidigungsministerium gestoppt wurde. Seit dem Frühsommer 2018 haben wir in der Koalition dafür gekämpft, die Werke zur Instandsetzung im Bereich der Bundeswehr zu belassen und sie nicht an die private Industrie abzugeben. Im Zuge der Landes- und Bündnisverteidigung brauchen wir die Fähigkeiten bei der Truppe. Jetzt wird in die Werke und in die Beschäftigten investiert. Das kostet erstmal Geld, ist aber mittel- und langfristig wirtschaftlicher, als Kapazitäten von der privaten Wirtschaft einzukaufen. Ein Expertenrat hat 2019 seine Analysen zur Beschaffungsorganisation abgeschlossen und 58 Einzelmaßnahmen empfohlen. Im September 2019 begann die Reform des Managements beim BAAINBw. Ich erhoffe mir von der Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen eine nachhaltige Stärkung der Beschaffungs- und des Nutzungsprozesses der Bundeswehr.

Äußerlich wirken die Inspekteure stets als Buhmänner, da sie ihre Einsatzbereitschaftslage seit Jahren kaum verbessern können. Ist im Verteidigungsausschuss bekannt, dass die Inspekteure nahezu keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die Beschaffungs- und insbesondere Nutzungsprozesse mehr haben?

Hellmich: Nun es ist bekannt, dass die Inspekteure nicht mehr über die Mittel verfügen, sei es Geld oder die Manpower, um die Einsatzbereitschaftslage nachhaltig zu beeinflussen. Deshalb ist ihre Verantwortung hierfür begrenzt. Obwohl, sie haben alle viel für eine sachliche Information des Parlamentes getan und auf die Dringlichkeit von Entscheidungen hingewiesen. Hilfreich wäre es aber z.B. für das Heer, wenn die vom Heer wahrgenommene Rüstungs- und die Nutzungsaufgabe wieder in einem Amt zusammengeführt wird oder auch das Marinearsenal deutlich gestärkt wird.

Es gab es viele Impulse für eine Modifikation der Bundeswehr in der nächsten Legislaturperiode. Nicht nur der frühere Wehrbeauftragte, Hans-Peter Bartels, auch Sie hatten schon einmal beschrieben, dass die Kopflastigkeit durch Ämter, Stäbe und Verwaltung nicht mehr in einem gesunden Verhältnis zur Truppe steht. Lohnt sich eine entsprechende Untersuchung und falls ja, würden Sie der Verteidigungsministerin raten, diese anzugehen?

Hellmich: Ja, unbedingt. Ich weiß, dass in der Bundeswehr intern schon über neue Strukturen nachgedacht wird. Ich rate dem BMVg, konkrete Vorschläge über den Abbau der Kopflastigkeit, zur Reduzierung von Führungsspannen zu erarbeiten und vorzulegen. Dabei sollte diese Arbeit ohne externe Hilfe mit eigenen Kräften durchgeführt werden. Allerdings sollte dieses nur zu sozialverträglichen Versetzungen führen. Ich freue mich insbesondere, dass der allseits geschätzte Hans-Peter Bartels seine Expertise einbringt.

Die Bundesregierung hat die Nato-Planungsziele bis 2031 unterschrieben. Dies betrifft das Einbringen von Fähigkeiten in allen Dimensionen, Land, Luft, See und Cyber. Erkennbar ist, dass der mittelfristige Finanzplan keinesfalls eine Realisierung ermöglicht. Sehen Sie eine Chance, dass mit der SPD, der über Jahre ihre sicherheitspolitische Verantwortung durchaus bewusst war, eine weitere Steigerung des Verteidigungsetats möglich ist?

Hellmich: Das Parlament hat dafür gesorgt, dass der Verteidigungshaushalt für 2021 nicht bloß stabil bleibt, sondern auch in Zeiten der Pandemie einen leichten Aufwuchs verzeichnen kann – hinzu kommen Mittel aus dem Konjunkturpaket 2020. Auch der Umstand, dass allein im Haushaltsjahr 2019 etwa eine Milliarde Euro der genehmigten Mittel durch das BMVg nicht ausgegeben werden konnten, machen deutlich, dass die Höhe des Budgets derzeit nicht das Problem ist. Hinzu kommen Fehlentwicklungen und -entscheidungen, wie das Scheitern des Vergabeverfahrens für den schweren Transporthubschrauber, die Ungereimtheiten beim Vergabeverfahren für die Nachfolge des G36 oder die schwindelerregenden Kostensteigerungen beim Projekt TLVS. Und beim PUMA warten wir nach wie vor auf den Nachweis der vollständigen Einsatzreife. Dieser Nachweis soll im Februar erbracht werden und ist die notwendige Vorbedingung, um in Überlegungen zur Beschaffung eines zweiten Loses einzusteigen. Man kann eben jetzt nicht alle Defizite auf Corona schieben, sondern muss die eigenen strukturellen Probleme in den Blick nehmen.

Unser Ziel ist und bleibt es, unsere Soldatinnen und Soldaten mit allem auszurüsten, was sie zur sicheren und erfolgreichen Bewältigung ihrer Aufgabe benötigen. Deshalb hat der Verteidigungsausschuss für 2021 wichtige Haushaltsanträge eingebracht, insbesondere zur persönlichen Ausstattung, kommt hierin doch in besonderem Maße die Fürsorgepflicht des Parlamentes für die Angehörigen der Bundeswehr zum Ausdruck. Der Generalinspekteur selbst hat in einem Interview vor wenigen Wochen darauf hingewiesen, dass ein Nach-Corona-Kassensturz nicht spurlos an den Wehretats aller Nato-Staaten und so eben auch Deutschland vorübergehen wird. Ich fürchte, er hat damit recht, obwohl die Verteidigungsministerin immer das Gegenteil fordert. Besser wäre hier, haltbare Alternativen zu entwickeln und diese konstruktiv in den Diskussionsprozess der Nato einzubringen. Diese Lage fordert noch engere und abgestimmte Kooperation in Europa, damit notwendige Fähigkeiten, dazu gehört z.B. der Schutz gegen neuartige Bedrohungen durch Drohnen, auch entwickelt und unnötige „Goldränder“ und nationale Egoismen vermieden werden.

Lassen wir mal das Jahr 2031 offen, nehmen wir das Jahr 2027 in den Blick. Neben einigen Marine- und Luftwaffenpaketen soll unter anderem endlich wieder eine Division des Heeres aus sich heraus einsatzbereit und führungsfähig sein. Auf der Zeitachse fließen mehr Schützen- und Transportpanzer in die Verschrottung zu, als Nachfolgesysteme zulaufen. Hört man ins Ministerium, scheint auch das Ziel 2027 wieder in den Sternen zu stehen. Wie gehen Sie als Parlamentarier damit um?

Hellmich: Unverändert bin ich der Auffassung, dass wir das Ziel bis 2031, die Verbände mit 100 Prozent des Personals und des Materials auszustatten, nicht so einfach aufgeben dürfen. Entlang der zeitlichen Wegmarken 2023, 2027 und 2032 hat das BMVg einen mittelfristigen Planungsrahmen für die Bundeswehr gesetzt, welcher im Wesentlichen der Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung Rechnung trägt. Für die VJTF 2023 haben wir im Parlament viel auf den Weg bringen können – hierzu zählen die gleichnamige Kampfwertsteigerung für insgesamt 41 Schützenpanzer PUMA und die notwendige Ausstattung zur Realisierung eines Battle Management Systems. Schon jetzt ist aber klar, so auch die Aussage des Inspekteurs des Heeres, dass die ursprünglich gesetzten Ziele für die VJTF 2023 wohl nicht erreicht werden. Die Folge ist, dass die vollständige Ausstattung der VJTF 2023 abermals nur durch das „Kannibalisieren“ anderer Teile des Heeres gewährleistet werden kann. Mit Blick auf die mittelfristige Planung bis 2032 bin ich daher skeptisch, ob mit der bestehenden und schwerfälligen Organisationsstruktur diese komplexen Aufgaben erfolgreich erfüllt werden können. Das Gestrüpp der Zuständigkeiten muss klar geordnet werden. Eine Führungsaufgabe ersten Ranges. Über Aufstockungen wird erst zu reden sein, wenn das BMVg imstande ist, die bereitgestellten Mittel effizient zu administrieren. Um es klarzustellen: die Vollausstattung ist und bleibt das Ziel – auch über den nächsten Wahltermin hinaus!

Viele Großvorhaben sind europa-, Industrie- oder arbeitsmarktpolitisch getriebene Projekte. Durchaus nachvollziehbar. Gelingen diese, wird man ab 2035 fortfolgend nachhaltige Effizienzgewinne durch gemeinsame entwickelte und genutzte Waffensysteme einfahren. Der Haken ist, dass diese Zukunftsprojekte mit Vertragsunterzeichnung Unmengen Geld aus dem Verteidigungshaushalt für Forschung und Entwicklung saugen, die dann nicht für die mittelfristige militärische Bedarfsdeckung zu Verfügung stehen. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
 
Hellmich: Dieser Widerspruch löst sich solange nicht auf, wie nicht in einer breit angelegten und auch vom BMVG aktiv betriebenen Industrie- und Rüstungsstrategie, Wertschöpfung, aus Steuergeldern der Bundesbürger finanziert, nachprüfbar in die Stärkung der eigenen Fähigkeiten fließt. Richtig ist, über gemeinsame Forschung und Entwicklung europäisch zur Verfügung stehende gemeinsame Fähigkeiten zu entwickeln und dadurch auch technologische Führung zu gewinnen, die industriepolitische Treibkräfte sind, so z.B. im Bereich der Sensorik. Wir benötigen eine Konsolidierung der Rüstungsindustrie in Deutschland und in Europa, die mit einer aktiv umgesetzten Industriepolitik durch das BMVG begleitet werden muss. Die Konflikte in europäischen Projekten gehen im Kern um die Verfügung oder auch den Abfluss von Wissen in Form der IPRs, die neben den Fähigkeiten der Beschäftigten das Zukunftskapital der Unternehmen sind.

Wir sind im zwanzigsten Jahr des Afghanistan-Einsatzes. Im Februar wird man in Brüssel das Auslaufen des militärischen Engagements beraten und vermutlich beschließen. In Afghanistan ist vieles gut gelaufen, aber es wurden eben auch politische Fehler gemacht. Eine Kernforderung der Truppe ist seit Jahren, dass man diesen Einsatz einmal evaluiert und Lehren daraus zieht. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Hellmich: Wesentliche Fortschritte wurden erzielt: Die Lebenserwartung der Menschen ist um 20 Jahre erhöht, die Anzahl der Schulkinder hat sich verneunfacht, das Pro-Kopf-Einkommen ist um 400 Prozent gestiegen, Frauen und Mädchen haben endlich Zugang zu Bildung und Arbeit, es ist landesweit eine medizinische Grundversorgung verfügbar. Im Bereich Sicherheitssektorenreform wurden mit der Ausbildung von ca. 300.000 afghanischen Soldatinnen und Soldaten sowie über 100.000 afghanischen Polizistinnen und Polizisten ebenfalls akzeptable Ergebnisse erzielt. Die Friedensverhandlungen laufen, wenngleich auch schwierig und fragil. Die Voraussetzung dafür hat erst der militärische Einsatz der Staatengemeinschaft geschaffen. Aber der Preis dafür ist natürlich sehr hoch: 59 getötete deutsche Soldaten, davon 35 im Gefecht oder durch Anschläge. Ich kann dem hohen persönlichen Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten wie der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihren Angehörigen nur meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Mit der Gedenkstele für die im Einsatz zu Tode Gekommenen haben wir jüngst vor dem Sitzungssaal unseren parlamentarischen Beitrag zur Erinnerung an die Opfer auch dieses Einsatzes erbracht.

Das aktuelle Mandat läuft am 31. März 2021 aus. Ob und in welcher Form der Bundestag ein weiteres Mandat erteilen wird, lässt sich mit Bestimmtheit noch nicht sagen. Fest steht, dass wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern, der NATO, den UN und mit der frei gewählten afghanischen Regierung, das gemeinsame Vorgehen beraten werden. Unserer Verantwortung gegenüber der afghanischen Bevölkerung werden wir uns auch nach einem Truppenabzug nicht entziehen, z.B. bei der Stabilisierung und Konsolidierung des Sicherheitssektors. Die weiteren Schritte zu einem friedlichen und stabilen Afghanistan werden wir nach Kräften unterstützen. Dies schließt die Notwendigkeit ein, den Einsatz in Afghanistan einer gründlichen Evaluation zu unterziehen, auch damit wir Fehler dieses Einsatzes nicht an anderer Stelle wiederholen. Und mit Blick auf eine andere Diskussion, bewaffnete Drohnen werden wir dort aktuell nicht brauchen!

Die Bundeswehr hat bezüglich Ausbildung, Übung und Einsatz wie alle anderen Bereiche auch mit notwendigen Corona-Auflagen zu kämpfen. Dennoch leisten viele Soldatinnen und Soldaten seit Monaten, auch über Weihnachten und Silvester, zusätzlichen Dienst in der Amtshilfe. Amtshilfe, die weder Kernauftrag noch strukturbestimmend ist. Dennoch wird es möglich gemacht. Wie ist Ihr diesbezüglicher Eindruck vom Engagement der Bundeswehr?

Hellmich: Das Jahr 2020 hat Europa und Deutschland vor beispiellose Herausforderungen gestellt, zu deren Bewältigung die Bundeswehr im 65. Jahr ihres Bestehens Herausragendes gleistet hat. Fast 8000 Angehörige der Bundeswehr unterstützen verschiedenste zivilgesellschaftliche Institutionen derzeit bei der Bekämpfung und Eindämmung der Corona-Pandemie. Ich möchte die Gelegenheit an dieser Stelle daher zunächst dazu nutzen, allen Soldatinnen und Soldaten meinen tiefen Dank auszudrücken. In 65 Jahren hat die Bundeswehr nicht bloß gezeigt, dass sie sicherheitspolitisch der Garant für die Souveränität unseres Landes ist, sondern auch, dass wir uns als Gesellschaft in Krisensituationen stets einschränkungslos auf die Expertise und das Pflichtbewusstsein aller Angehörigen der Bundeswehr verlassen können. Aber wir müssen auch Lehren für die Zukunft daraus ziehen. Wie sich alle staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen auf solche Krisen, z.B. durch gemeinsame Übungen und Standardisierung von Abläufen, besser vorbereiten, das wird – unter Einschluss der Möglichkeiten der Amtshilfe durch die Bundeswehr – auf die Tagesordnung nach ganz oben gehören. Aber dies ist ein eigenes, seitenfüllendes Thema! Aber anzupacken ist das schnell!

 

Unsere Redaktion hat in den vergangenen Wochen eine ganze Reihe von Gesprächen mit Verteidigungspolitikern geführt. Lesen Sie hier die Interviews mit Florian Hahn (CSU), Tobias Lindner (Bündnis 90/Die Grünen), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Johann Wadephul (CDU).

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