Soldatinnen und Soldaten trainieren bei der Übung Ramming Bull in Litauen - etwas hat sich bei der Zeitenwende schon getan, doch die Mittel sind noch nicht gesichert. Bundeswehr/Jana Neumann

Soldatinnen und Soldaten trainieren bei der Übung Ramming Bull in Litauen - etwas hat sich bei der Zeitenwende schon getan, doch die Mittel sind noch nicht gesichert. Bundeswehr/Jana Neumann

11.02.2024
Von Nicole Deitelhoff

Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik bleibt eine Herausforderung

In einer Zeit der „Polykrise” sind klare Prioritäten für die Zukunftssicherung und der offene Dialog über Investitionen und Verzicht unabdingbar. Und der muss jetzt endlich begonnen werden.

Mit dem Begriff der Zeitenwende versucht die Bundesregierung die Konsequenzen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine für die deutsche und europäische Sicherheit auszuleuchten. Diese Zeitenwende ist die Grundlage für die Forderung nach einer Neuausrichtung der deutschen (und europäischen) Sicherheits- und Verteidigungspolitik, d.h. von massiven Investitionen in die Aus- und Aufrüstung der Streitkräfte und der Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung.

Dazu zählen nicht nur finanzielle Investitionen in beträchtlicher Höhe und für beträchtliche Dauer, sondern auch organisatorische und strategische Veränderungen. Neben dem engeren Bereich der militärischen Sicherheit und Verteidigung gehören dazu aber auch die Wirtschafts- und Energiepolitik, die die geoökonomischen Risiken, d.h. vor allem asymmetrische Abhängigkeiten abmildern soll, eine Entwicklungszusammenarbeit, die neue Partnerschaften mit dem globalen Süden etablieren und Staaten stabilisieren soll, um weitere Krisenherde vorzubeugen oder sie zu managen, oder auch eine Bildungs- und Forschungspolitik (Stichwort: Forschungssicherheit), die technologische Innovationen ermöglicht und absichert und die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft erhalten soll.

Dieses Aufgabenportfolio ist alles andere als bescheiden, und nach zwei Jahren fallen die Urteile über die Umsetzung teils vernichtend aus. Selbst wenn Kommentatorinnen und Kommentatoren noch zugestehen, dass sich mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr, der Entscheidung für die dauerhafte Stationierung einer Brigade in Litauen und nicht zuletzt mit den umfangreichen Hilfen für die Ukraine durchaus etwas getan hat, lautet das überwiegende Urteil, dass die Wende in der deutschen Sicherheitspolitik ausgeblieben sei. Weder seien die Mittel für die Zeitenwende in der Zukunft gesichert, noch seien jenseits großer Ankündigungen die organisatorischen Umrüstungen angegangen worden. Von „verschlafener Wende“ oder „Zeitlupenwende“ ist die Rede.

Man mag die quälend langsame Umsetzung der Zeitenwende in Sicherheit und Verteidigung bedauern, dennoch klingen die Urteile über die Umsetzung der Zeitenwende oft wohlfeil. Hinter der behäbigen Umsetzung stecken nicht in erster Linie mangelnder politischer Wille oder die Dysfunktionalität von Beschaffungsverfahren.

Die Langsamkeit erklärt sich aus zwei anderen Aspekten, von denen der eine von hoher Bedeutung für die Demokratie ist und der andere das fundamentale politische Problem der Gegenwart aufzeigt, für das weder das BMVg, einzelne Minister noch die Bundesregierung verantwortlich sind.

Die Langsamkeit der Umsetzung politischer Ankündigungen in Demokratien ist kein Fehler, sondern gewollt: Sie soll Nachvollziehbarkeit und Widerspruchsmöglichkeiten gewährleisten, d.h. sicherstellen, dass politische Entscheidungen hinreichend an den Willen des politischen Souveräns zurückgebunden werden und seine Rechte nicht beschneiden. Nun mag man kritisieren, dass solch demokratische Behäbigkeit in Friedenszeiten wunderbar ist, aber die Krise andere Erfordernisse zeitigt. Das ist ganz sicher richtig und es könnte auch schneller gehen, nur ist die Krise das eigentliche Problem für eine konsequente Umsetzung der Zeitenwende-Erfordernisse.

Die Krise, die der Bundeskanzler mit dem Begriff „Zeitenwende“ bedachte, ist keineswegs die einzige, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahren belastet. Hinzu treten eine Reihe weiterer, teils eng mit ihr verbundener Krisenphänomene, von Pandemie, Finanz- und Verschuldungskrise, Klimawandel bis zu Bildung und demokratischer Repräsentation.

In Zeiten einer solchen „Polykrise“ ist jede Investition eine Herausforderung, denn es geht nicht mehr darum, Gewinne zu verteilen oder umzuverteilen, sondern Verluste und Risiken zu entscheiden, bzw., welches Risiko das dramatischste mit Blick auf die Zukunftssicherung ist. In der Polykrise sind zunächst alle Krisen gleichermaßen bearbeitungswürdig.

Um so schwieriger ist die Entscheidung, wo man Investitionen hinlenken soll, denn das impliziert immer auch eine Entscheidung, wohin sie nicht fließen: in die Bildung, in den sozialen Wohnungsbau, in die Energiewende, in die Digitalisierung? In dieser Situation massiver Verteilungskämpfe steigt nicht nur das Risiko von Politikblockaden, weil die politischen Parteien sich zusehends auf ihre spezifische Klientel zurückziehen (müssen), es wird auch eine Politik des „sowohl als auch“ wahrscheinlicher, in der es ein bisschen mehr für alle gibt, aber für keinen genug.

Das bisschen Zeitenwende, das die letzten zwei Jahre gebracht haben, ist mithin nicht Ausdruck mangelnden politischen Willens oder bürokratischer Dysfunktionalitäten, sondern Ausdruck von Politik in der Polykrise. Wer an diesem rasenden Stillstand etwas ändern möchte, muss darum anders ansetzen. Es braucht ein Bekenntnis zu Prioritäten – und zu Verzicht. Das muss erarbeitet werden in einer offenen und öffentlichen Debatte und die braucht Zeit. Umso entscheidender ist, dass wir sie endlich beginnen.

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