Sieht so die Zukunft für Afghanistans Frauen und Mädchen aus? Diese Afghaninnen sind Anfang August mit ihren Töchtern aus ihrem Dorf geflohen und suchen Schutz in Kunar im Nordosten Afghanistans. Unter der Burka, die den Frauen von den Taliban aufgezwungen wird, ist der Blick auf die Welt getrübt. Foto: picture alliance / AA

25.09.2021
Deike Diening und Cornelius Dieckmann

Zurück ins Mittelalter: Die geraubte Zukunft der Frauen im Taliban-Staat

„Das Leben, das ich hatte, ist vorbei.“ Mariam studierte Jura und wollte die Welt kennenlernen. Die Taliban kannte sie nur aus Erzählungen aus einer düsteren Vergangenheit. Jetzt befürchten junge Frauen wie sie das Schlimmste unter der wiedererstarkten Herrschaft der Taliban.

Einen Talib hatte sie noch nie gesehen. Nicht von Angesicht zu Angesicht. Ihre Eltern sprachen manchmal von diesen Männern, die ihr wie aus einer anderen Welt erschienen, einer vergangenen Zeit zumindest. Die Eltern sagten dann: „Diese Leute sind der Grund dafür, dass die besten Jahre unseres Lebens vergeudet wurden.“ Die besten Jahre von Mariam Azads Leben endeten am Sonntag, dem 15. August 2021, kurz vor ein Uhr nachmittags.

An dem Tag, an dem die Taliban fast kampflos Afghanistans Hauptstadt erobern, sitzt die Jurastudentin vor dem Fernseher und hört dem Verteidigungsminister zu. Den Nachrichten, die in den Gruppenchats mit ihren Kommilitoninnen aufploppen, will die 21-Jährige nicht recht glauben. Die Taliban in Kabul? Zu diesem Zeitpunkt nur ein Gerücht. „Und dann“, so erzählt Azad es am Donnerstag darauf per Videotelefonat, „sahen wir vom Fenster aus, wie sie auf ihren Motorrädern die große Verkehrsstraße vor unserer Wohnung entlangkamen.“ Da sei etwas in ihr zerbrochen, sagt die Studentin. „In der Sekunde sah ich all meine Träume und Hoffnungen vor mir zusammenfallen. Ich dachte: Das Leben, das ich hatte, ist vorbei. Jetzt muss ich dafür kämpfen, wie ein normaler Mensch zu leben.“

Das Leben, das sie hatte, bestand aus 14 Wochenstunden Zivilrecht, Politikwissenschaft, englischer Literatur, Straf- und Steuerrecht. An dem Wochenende, an dem die Taliban die Macht übernahmen, saß Mariam Azad gerade an einer Hausarbeit, Abgabe diesen Dienstag. Doch am Dienstag existiert ihre Universität faktisch nicht mehr.

Mariam Azad, deren echter Name hier nicht genannt werden soll, ist 2000 geboren, im letzten vollen Jahr des ersten Taliban-Regimes. Von 1996 bis 2001 hatten Frauen quasi unter Hausarrest gestanden, Mädchen war der Zugang zu Bildung verboten. Doch Azad gehört zu der Generation junger urbaner Frauen, die selbstbestimmt aufwuchsen und gesellschaftlich mitreden dürfen – und wollen. Sie hat gute Schulen besucht, war Stipendiatin einer türkisch geführten High School in Masar-e-Sharif, befindet sich jetzt im letzten Jahr ihres Jurastudiums an der American University. Man muss wohl sagen: befand. Denn es ist völlig unklar, ob die zutiefst misogynen Taliban Bildung für Mädchen und Frauen künftig zulassen werden. Die islamistische Miliz gibt sich zwar zunächst moderat und hat angekündigt, dass Frauen sogar in die neue Regierung eingebunden werden sollen. Doch es besteht viel Grund für Zweifel daran, dass solche Zusagen ernstgemeint sind.

„Es ist nur eine Show“, sagt Mariam Azad vor einem offenen Fenster im Wohnzimmer eines Verwandten in Kabul, die Haare zurückgebunden, eine kleine Goldkette um den Hals. „Die Taliban geben vor, Frauen zu respektieren, damit sie internationale Anerkennung bekommen.“ Das Haus verlasse sie seit ein paar Tagen nicht mehr ohne männliche Begleitung, trage nur noch lange schwarze Kleidung, um nicht die Aufmerksamkeit von Taliban auf sich zu ziehen, die nach unverheirateten Frauen Ausschau halten könnten zur Zwangsverheiratung. „Ich erlebe gerade zwei Leben innerhalb weniger Tage“, sagt Azad. Auf dem Campus der American University, die die Amerikaner 2006 in Kabul gründeten, habe sie immer das Gefühl gehabt, gar nicht in Afghanistan zu sein. „Wir hatten echte Meinungsfreiheit, die Lehrenden respektierten uns. Wir waren in ihren Augen die Zukunft dieses Landes.“ In den Seminaren redeten die Studierenden über Strafrecht, häusliche Gewalt gegen Frauen, über Religionsgelehrte, die Mädchen in Ehen zwingen. Sie verglichen afghanische Gesetzestexte mit deutschen. Das sei das Deprimierendste: dass es die Gesetze, die sie jahrelang studiert hat, nun gar nicht mehr gibt.

Das laute „Ping“, das soeben durch den Hörer mit Birgitta Hahn zu hören ist, vermeldet ihr, dass gerade auch die ehrenamtliche Leiterin des Zentrums in Kabul angekommen ist. Anders als in Kabul, berichtet Hahn, sei das wirtschaftliche Leben in Herat zum Erliegen gekommen, es gebe keine Märkte, die Banken sind geschlossen, auf den Straßen patrouillierten Tag und Nacht die Taliban. Zwei Frauen seien aufgefordert worden, ihre Arbeitsstellen männlichen Verwandten zu überlassen. Und schon vor Tagen sei in einer Moschee der Appell an unverheiratete Frauen zwischen 15 und 45 ergangen, sich für eine Verheiratung mit Taliban bereitzuhalten.

Birgitta Hahns Vertrauen in die Beteuerungen der Taliban, Frauen auch Rechte zu lassen, ist gleich Null. Schon zuvor habe es ja Morddrohungen gegen Journalistinnen und Politikerinnen gegeben, auch Attentate. Warum sollte das gerade jetzt plötzlich aufhören, wo die Urheber dieser Drohungen an die Macht gekommen sind?

Natürlich, sagt Hahn, ist es langfristig tragisch, dass man jetzt ausgerechnet die engagierten, mutigen und gebildeten Frauen aus dem Land holt. Denn wer soll dann in Zukunft für die Rechte kämpfen? „Das ist auch ein Brain-Drain für das Land.“ Hahn hofft trotzdem noch darauf, dass man in Zukunft aus dem Ausland noch etwas erreichen könne, dass es möglich sein wird, die Arbeit aus einem Nachbarland, digital oder aus dem Untergrund heraus, fortsetzen zu können. Denn in dem Maße, in dem die Möglichkeiten sinken, steigt der Bedarf. Am meisten gefährdet sind gerade jene, die sich in den letzten Jahren getraut haben, öffentlich in Erscheinung zu treten, sagt Hahn. Diese Frauen hätten sich artikuliert, auch im Vertrauen auf die Zusagen von Nato und Bundesregierung.

Birgitta Hahn in Berlin hat beschlossen, alle Fotos der Projektbeteiligten auch von der Internetseite von „Terre des Femmes“ zu löschen, damit man sie nicht mehr identifizieren kann. Die Frauen werden fünf Tage nach der Machtübernahme der Taliban mitsamt ihrer 18-jährigen Arbeit – zu ihrer eigenen Sicherheit – wieder unsichtbar.

Es ist spät am Donnerstagabend, als Khalida Popal ans Telefon geht. Die frühere Kapitänin der afghanischen Frauenfußballnationalmannschaft klingt fast ausdruckslos. Sie sitze zu Hause in Kopenhagen und habe Angst, vor Erschöpfung umzufallen. Seit Tagen habe sie nicht richtig geschlafen, dazu ihr Vollzeitjob als Koordinatorin für Frauenfußball beim dänischen Profiverein FC Nordsjælland, dazu die Hilferufe aus Afghanistan. „Ich bekomme Tag und Nacht Anrufe von den afghanischen Spielerinnen“, sagt Popal. „Sie haben riesige Angst, sind völlig überfordert, fühlen sich betrogen von den Politikern.“

Popal, Jahrgang 1987, ist Pionierin des afghanischen Frauenfußballs. Das Nationalteam baute sie 2007 von der Graswurzel auf – in einem Land, in dem die Taliban wenige Jahre zuvor in den Stadien noch Hinrichtungen am Torgestänge durchgeführt hatten. „Als wir anfingen, waren wir nur ein paar Mädchen“, erinnert sich Popal. „Bis letzte Woche waren zwischen 3000 und 4000 Spielerinnen in Afghanistans Fußballverband registriert.“ Wieder die Vergangenheitsform.

Es sei ein fantastisches Gefühl gewesen, als sie zum ersten Mal das afghanische Nationaltrikot getragen habe, sagt Popal. Ein Auswärtsspiel in Pakistan, „das Wappen auf der Brust, die Flagge unseres Landes über uns.“ Das Team spielt zunächst gegen Nato-Auswahlen, dann auch gegen anderen Nationen. 2011 folgt die erste internationale Turnierteilnahme. 0:13 gegen Nepal. 0:3 gegen Pakistan. 2:2 gegen die Malediven. Die Ergebnisse sind völlig egal. Erstmals spielen afghanische Frauen für ihr Land.

Doch Khalida Popal hat zu diesem Zeitpunkt längst einen Preis dafür gezahlt. Weil sie für ihr feministisches Engagement Morddrohungen erhielt, flüchtete sie 2011 aus Afghanistan. 2016 beantragte sie Asyl in Dänemark, wo sie seither lebt. „Ich bin der Beweis dafür, dass es gefährlich ist, eine öffentlich auftretende afghanische Frau zu sein. Weil ich aktiv war, wurde ich zur Zielscheibe der Taliban.“ Den Spielerinnen, die jetzt in Afghanistan das Gleiche befürchten, könne sie nur raten, ihre Fotos in den sozialen Medien zu löschen und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, sagt die 34-Jährige. „Ich kann ihnen leider nicht sagen: Alles wird okay. Es wäre eine Lüge.“

Viele junge Afghaninnen hätten den Reden über Menschenrechte geglaubt. Jetzt fühlten sie sich alleingelassen. „Wir reden hier von der Generation der Träumerinnen – das sind Frauen und Mädchen, die nie unter den Taliban gelebt haben und vielleicht Schiedsrichterin, Trainerin oder Spielerin werden wollten.“ Selbst als die Frauennationalmannschaft längst anerkannt war, mussten die Spielerinnen anrennen gegen tief verwurzelte Ablehnung. 2018 wurde öffentlich, maßgeblich durch Popals Einsatz, dass Funktionäre des afghanischen Fußballverbandes Spielerinnen sexuell missbraucht hatten. Der MeToo-Skandal reichte hoch bis zum Verbandspräsidenten, den die Fifa auf Lebenszeit sperrte. „Wir standen gegen ein Mindset, das nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen verbreitet war“, sagt Popal. Die Sozialisierung vieler unter dem Taliban-Regime habe auch noch gewirkt, als der Westen in Afghanistan Demokratie verbreiten wollte. Laut einem Bericht der WHO von 2015 haben fast 90 Prozent der Frauen in Afghanistan häusliche Gewalt erlitten.

Ist wenigstens etwas erreicht worden in den vergangenen 20 Jahren, in denen in Deutschland so viel von Brunnenbohrungen und Mädchenschulen geredet wurde? Khalida Popal klingt resigniert. „Ja, Frauen haben eine Bildung erhalten, konnten reisen, konnten sogar ihr Land repräsentieren. Sie hatten ein wenig Spaß und konnten ein bisschen ihr eigenes Leben haben. Aber das ist alles weg.“ Ein eigenes Leben. Khalida Popal musste ihr altes aufgeben, um eines zu bekommen. Und sagt zehn Jahre nach ihrer Flucht unumwunden: „All die Opfer, die ich erbracht habe, waren umsonst.“


Wie geht es weiter für die gebildeten jungen Frauen Afghanistans? In Kabul sagt die Jurastudentin Mariam Azad, dass sie eigentlich Anwältin für Handelsrecht werden wolle. Niemand weiß, ob jungen Frauen, die Bildung und Zukunftsvisionen haben, solche Wege noch möglich sein werden. „Wenn du keinen Mann in deinem Leben hast, dann hast du am heutigen Tag kein Leben in Afghanistan“, sagt Azad, fünf Tage nachdem sie zum ersten Mal in ihrem Leben Taliban auf der Straße gesehen hat.

Auf Facebook hat Azad den FC Barcelona geliket, eine Seite namens „I Am Feminist“, die BBC, Selena Gomez, die WHO, den am Sonntag geflohenen Präsidenten Ashraf Ghani. „Wir sind ganz normale junge Leute, Gen Z eben“, sagt sie. Doch die Taliban wollen eine andere Normalität – eine, in der Frauen Menschen zweiter Klasse sind. Ende August hätte für Mariam Azad das Herbstsemester angefangen. Vielleicht wäre sie nach ihrem Abschluss ins Vereinigte Königreich gegangen, hätte einen Master gemacht, dann einen Doktor. Und irgendwann wollte sie vielleicht für das afghanische Büro bei der Welthandelsorganisation in Genf arbeiten.

Und dann sagt die 21-Jährige noch einen Satz, den sie als Tatsache formuliert. Ohne Vielleicht, ohne Konjunktiv. „Ich bin mir sicher, dass ich es eines Tages schaffe.“

Dieser Artikel erschien am 20. August 2021 im Berliner Tagesspiegel

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