Graf Wolf von Baudissin war maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr und insbesondere an der Entwicklung der Inneren Führung beteiligt. Foto: Bundeswehr/Munker

Graf Wolf von Baudissin war maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr und insbesondere an der Entwicklung der Inneren Führung beteiligt. Foto: Bundeswehr/Munker

18.12.2021
Von Frank Jungbluth

„Baudissin hat der Truppe auch heute noch viel zu sagen”

Das Zentrum Innere Führung der Bundeswehr wurde am 1. Oktober 1956 aufgestellt, die politische Bildung der Bundeswehrsoldaten war von Anfang an das Ziel. Was sich verändert hat, was geblieben ist, erklärt der heutige Kommandeur, Generalmajor André Bodemann, im Interview mit unserem Chefredakteur Frank Jungbluth.

Die Himmeroder Denkschrift von 1950 ist das Fundament der Bundeswehr, der ersten Armee des demokratischen Deutschland nach 1945, und die DNA der Inneren Führung. Was haben uns Wolf von Baudissin und seine Mitstreiter heute noch zu sagen?

Generalmajor André Bodemann: Die Grundsätze in der Himmeroder Denkschrift und dabei auch die Aussagen von Baudissin sind nach meiner Auffassung unverändert gültig. Sie haben uns daher immer noch viel zu sagen. Das einzigartige Prinzip der Inneren Führung hat sich – im Übrigen auch im Einsatz – absolut bewährt. Es lohnt sich aber, genau diese alten Papiere erneut aufmerksam zu lesen. Denn dort sind bereits viele Antworten auf die Fragen und Dinge, die wir heute beklagen bzw. fordern, enthalten. Schon immer war die Innere Führung kein Selbstzweck und hatte von Beginn an die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zum Ziel. Um treu dienen und tapfer verteidigen zu können, sollte der Soldat als Staatsbürger in Uniform neben guter Ausbildung vor allem wissen, warum er dient und wofür er unter anderem bereit ist, sein Leben für den Auftrag einzusetzen oder zu töten. Aus innerer Überzeugung sollte er für die Werte eintreten, die in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie im Grundgesetz festgeschrieben sind. Das gilt bis heute ! Wir müssen dies und die bewährten Prinzipien wie Führen mit Auftrag aber auch leben und zum Teil wiederbeleben. Neben dem Wiederbeleben von Bewährtem muss natürlich auch Raum gegeben werden für Veränderungen und Neuerungen. Denn seit 1950 hat sich natürlich auch vieles verändert. Aber die Innere Führung wurde schon von Beginn an als eine dynamische Konzeption angelegt. Insofern muss diese auf den bewährten Fundamenten stets weiterentwickelt werden. Gesellschaftliche, technologische, sicherheitspolitische und andere Veränderungen sind neu dazu zu denken. Hier seien beispielhaft nur die Cyber-Thematik, die zunehmende Digitalisierung und der veränderte Personalkörper der Mannschaften nach Aussetzung der Wehrpflicht genannt.

Die deutsche Gesellschaft erscheint heute zerstrittener als zuvor. Wie hat sich Ihrer Beobachtung nach die Diskussion, auch über Bundeswehr und Politik, in den vergangenen Jahren entwickelt?

Ich gehe nicht so weit, dass die Gesellschaft zerstrittener ist. Fest steht aber, dass Auffassungen heute breiter und zum Teil auch polarisierter sind. Ich denke, es wird viel mehr hinterfragt als früher. Und das ist doch auch gut so. Heute kann man sich zudem durch das Internet und die anderen Medien breiter informieren und dadurch verstärkt auch unterschiedliche Positionen einnehmen. Dabei besteht aber vermehrt die Gefahr von falschen Informationen oder/und bewusst falsch dargestellten Sachverhalten, den sogenannten „Fake News“. Des Weiteren ist die Bundeswehr durch die Aussetzung der Wehrpflicht in der Gesellschaft nicht mehr so präsent. Aber darauf hat man mit dem Tag der Bundeswehr, dem kostenfreien Bahnfahren in Uniform, dem Aufbau von Heimatschutz-Kompanien etc. bereits reagiert. Zudem rückt die Bundeswehr durch ihre Leistung oft dann auch positiv in den Fokus, wie zum Beispiel zuletzt bei der Amtshilfe im Zuge der COVID-19 Pandemie oder der Flutkatastrophe im Ahrtal, auch wenn dies nicht unser Hauptauftrag ist. Politische Diskussionen und der Diskurs leben jedoch vom „Mitmachen“. Dazu muss man argumentativ gut aufgestellt sein. Auch hier kommt der Inneren Führung in den Streitkräften mit der Persönlichkeitsbildung, vor allem der politischen Bildung, eine bedeutende Rolle zu.

Wie gut sind junge Soldatinnen und Soldaten heute informiert, bevor sie im Rahmen der politischen Bildung/Inneren Führung unsere Demokratie und ihre Rolle als Soldaten und Staatsbürger in Uniform kennenlernen?

Ich bin zunächst davon überzeugt, dass wir uns bei den jungen Menschen, die heute freiwillig zur Bundeswehr kommen, auf einen anderen „Abholpunkt“ einstellen müssen. Die Prägung durch das Elternhaus, die Familie und die Schule ist heute nach meiner Bewertung nicht mehr so intensiv wie noch vor Jahren.
 
Zudem ist der Soldatenberuf auch kein Beruf wie jeder andere. An das Soldatsein sind besondere Anforderungen gestellt, physisch, psychisch wie charakterlich. Zahlreiche junge Menschen wissen jedoch nur noch wenig von diesen besonderen Anforderungen des soldatischen Dienstes. Sie verfügen zudem über Defizite in Bezug auf politische und historische Zusammenhänge, ethische Grundlagen und die Bedeutung von Gesetzes- und Verfassungstreue. Verbunden mit mangelnder Resilienz gegen Fake News und extremistische Tendenzen mündet dies in Handlungsunsicherheit und Fehlverhalten. Hier gilt es, frühzeitig im Rahmen einer gesamtheitlichen Persönlichkeitsbildung und soldatischen Erziehung anzusetzen sowie aktiv Orientierung zu bieten. Auch das ist Teil der Inneren Führung.

Beschreiben Sie bitte unseren Lesern in drei Sätzen das Prinzip „Führen mit Auftrag“.

Vorab muss ich sagen, dass es in der Beantwortung der Frage leider doch etwas mehr als drei Sätze sein werden. Führen mit Auftrag ist ein im Wesentlichen auf Vertrauen beruhendes und bewährtes Führungsprinzip. Dabei gibt der jeweilige militärische Vorgesetzte ein Ziel aus, lässt zugleich aber genügend Spielraum, wie man diesen Auftrag letztendlich erfüllt. Auf dem Weg zur Auftragserfüllung kennt der Soldat die Absicht der übergeordneten Führung und kann so – selbst bei wechselnden beziehungsweise unsicheren Lagen – immer wieder im Sinne dieser übergeordneten Führung handeln und das Ziel dennoch erreichen. Zugleich heißt Vertrauen aber auch, Fehler zu tolerieren. Daher sind das Formulieren des Ziels und der Absicht so wichtig. Gerade wenn diese nicht verständlich sind oder missverständlich aufgefasst werden, können Fehler passieren. Aber auch da muss der Vorgesetzte am Ende die Verantwortung für das Handeln seiner Untergebenen übernehmen. Das ist richtige Fehlerkultur!

Überzeugung und Einsicht sind die Grundlage soldatischen Handelns. Wie überzeugt man junge Soldaten davon, soldatisch zu handeln?

Jeder Vorgesetzte ist neben seiner Funktion als militärischer Führer und Ausbilder auch Erzieher. Diese Trias „Führen – Ausbilden – Erziehen ist äußerst wichtig ! Dabei gilt es vor allem, das entsprechend erwartete und „richtige“ soldatische Handeln den jungen Menschen zu erläutern sowie auch vorzuleben. Dazu gehören Dinge wie Mut, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit und so weiter! Hier muss ein jeder Vorgesetzter mit gutem Beispiel vorangehen und die ihm oder ihr anvertrauten Soldatinnen und Soldaten in diesem Sinn militärisch erziehen. Das nennen wir „Führen durch Vorbild“ ! Dies funktioniert im Grundbetrieb wie auch im Einsatz.

Sie haben kürzlich davon gesprochen, dass die Bundeswehr kein Unternehmen sei, Soldaten nichts Besseres, aber etwas Besonderes. Erklären Sie bitte den Unterschied.

Wie bereits dargestellt, bin ich davon überzeugt, dass der Soldatenberuf kein Beruf ist wie jeder andere. Wir sind daher wahrlich nicht mit einem Unternehmen vergleichbar. Das hat nichts damit zu tun, als etwas Besseres angesehen werden zu wollen. Aber an das Soldatsein sind nun einmal besondere Anforderungen gestellt, physisch, psychisch wie charakterlich. Schließlich verpflichtet unser Eid uns dazu, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des Deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“. Je näher wir an diesen Eid und damit an den Einsatz herankommen, desto intensiver sind die damit verbundenen Grundfragen und desto unvergleichbarer ist unser gefordertes Handeln. Schließlich geht es um die Fragen: Wann bin ich bereit, mein Leben oder das meiner mir anvertrauten Soldatinnen und Soldaten einzusetzen? Wann bin ich bereit, Leben zu nehmen, also zu töten ? Und wann verbietet mir mein Gewissen, etwas zu tun ? Daher ist die Innere Führung auch nicht die Summe der weichen Themen, wie es oft behauptet wird.

Ist die Herausforderung, soldatische Erziehung und Charakterbildung heute zu leisten, in den vergangenen Jahren gewachsen?

Auch wenn schon im Kapitel V der Himmeroder Denkschrift 1950 stand : „Ebenso wichtig wie die Ausbildung des Soldaten ist seine Charakterbildung und Erziehung, ich bin tatsächlich davon überzeugt, dass beides, sowohl die Erziehung als auch die Persönlichkeits- und Charakterbildung, heute eine gewachsene Herausforderung – oder besser gesagt, eine besondere Aufgabe darstellen.

Wie ich bereits angeführt habe, sehe ich die Gründe dafür in der soeben dargestellten Schere zwischen einerseits der Besonderheit des Soldatenberufs mit seinen speziellen Anforderungen sowie andererseits in dem davon abweichenden veränderten Abholpunkt und dem damit verbundenen höheren Bedarf an Orientierung für junge Menschen. Zugleich müssen wir uns an der heutigen Lebensrealität der Menschen ausrichten. Hier leistet das ZInFü seit 65 Jahren seinen Beitrag, indem wir die Innere Führung ständig weiterentwickeln und unsere Angebote (Trainings, Handreichungen, Unterrichtsmaterialien etc.) ständig aktualisieren sowie versuchen, die Inhalte „begreifbar“, in der Truppe umsetzbar zu machen, Orientierung bieten im Umgang mit Digitalisierung, Social Media, Vielfaltsthemen etc. gehören dazu.

Was unterscheidet einen Rekruten heute von einem Rekruten zu der Zeit, als Sie 1985 in die Bundeswehr eingetreten sind?

Die Menschen sind einfach anders. Sie sind nicht besser oder schlechter, sondern ganz einfach anders. Auch die Anforderungen und Rahmenbedingungen sind nicht minder oder mehr, sondern anders. Unsere Großväter und Großmütter haben schon über unsere Väter und Mütter geschimpft, dass sie weniger gut, resilient etc. seien. Unsere Väter und Mütter haben über uns ebenso gesprochen. Und wir reden heute auch so über die heutige Generation. Tatsächlich aber sind wir nur anders und haben heute andere Herausforderungen unter anderen Rahmenbedingungen zu meistern. Die Innere Führung wird sich daher neben einem unveränderbaren Kern ständig an die sich wandelnden politischen, gesellschaftlichen oder auch technischen Rahmenbedingungen anpassen müssen. So bleibt die Innere Führung zukunftsfähig und leistet einen wichtigen Beitrag zu einsatzbereiten Streitkräften.

Wie gut wirkt Innere Führung gegen Extremismus?

Insbesondere bei Vorfällen im Zusammenhang mit Extremismus wird schnell der Blick auf das „Versagen der Inneren Führung“ gelenkt. Ich sage aber, nicht die Innere Führung hat versagt, sondern der Mensch ! Es sind die Menschen, die Fehler begehen beziehungsweise fehlgeleitet sind oder fehlgeleitet wurden. Jeder Fall von Extremismus ist einer zu viel. Wir unterstützen daher mit dem ZInFü die Null-Toleranz-Linie. Wir können zwar keine „schwarzen Schafe“ zu guten Menschen und Soldaten umerziehen. Aber im Sinn einer Prävention stellen wir eine Vielzahl von Materialien für die Truppe bereit (Präsentationen, Bücher etc.) und bieten zahlreiche eigene Seminare oder Seminaranteile als Extremismusprävention an. Wir wollen die „Guten“ besser, resilienter und stärker machen. Am Ende müssen diese dann sagen : „Halt, Stop ! So etwas wollen wir bei uns nicht ! Wir lassen uns unseren guten Ruf von Euch nicht zerstören !“ Die Truppe muss dieses Angebot nutzen. Politische Bildung darf daher kein „Streichthema“ sein, sondern muss in der Truppe frühestmöglich und durchgehend durchgeführt werden.
 
65 Jahre Zentrum für Innere Führung – 65 Jahre BundeswehrVerband : Ein Grundsatz der Inneren Führung ist die Wahrnehmung des Koalitionsrechts. Ohne die Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Abs. 3 GG gäbe es den Verband nicht. Wie wichtig ist der BundeswehrVerband heute?

Der DBwV ist ebenso wie die Innere Führung nicht wegdenkbar! Der DBwV hat vieles für uns Soldatinnen und Soldaten „erkämpft“, sei es im Besoldungsrecht oder in der Einsatzversorgung etc.! Er bietet zudem umfassende Serviceleistungen wie zum Beispiel beim Rechtsschutz. Der Verband gibt den Soldatinnen und Soldaten somit eine gewichtige Stimme, die ansonsten deutlich weniger Gehör finden würde. Daher wünsche ich dem DBwV alles Gute zum Geburtstag!
 

Die Redaktion empfiehlt Ihnen auch den Podcast, bei dem Generalmajor André Bodemann bei uns zu Gast war.

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