Die deutschen UN-Soldaten des 2. Kontingents kamen am 18. Dezember 1993 in Somalia an. Foto: Detmar Modes/BMVg

29.01.2023
Von Michael Rudloff

Vor 30 Jahren: Soldaten gehen ein „Todesrisiko ohne Rechtssicherheit“ ein

Als 1993 erstmals deutsche Soldaten in einen bewaffneten Auslandseinsatz entsandt wurden, war deren rechtliche und soziale Absicherung nicht geklärt.

Auch wenn der Begriff zu dieser Zeit nicht fiel, vor nunmehr dreißig Jahren musste sich die Bundeswehr faktisch auf eine „Zeitenwende“ einstellen. 1955 in der Zeit der Blockkonfrontation gegründet, bestand ihr Auftrag darin, die Bundesrepublik Deutschland und als Teil der NATO das Bündnis zu verteidigen. Mit der Auflösung des sowjetisch geführten Warschauer Paktes veränderten sich das Selbstverständnis und der Auftrag der Streitkräfte. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet, bildeten die 1992 durch Verteidigungsminister Volker Rühe vorgelegten Verteidigungspolitischen Richtlinien die Grundlage für die Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Armee, bei der „politisches und militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geografischen Umfeld“ im Vordergrund der Maßnahmen zur Sicherheitsvorsorge stehen sollte.

Bereits im August 1990 hatten deutsche Marineeinheiten im östlichen Mittelmeer Aufgaben von Kriegsschiffen der USA übernommen, die für den Aufmarsch gegen den Irak in den Persischen Golf abgezogen worden waren. Während des Irakkrieges beteiligten sich Bundeswehrsoldaten in AWACS-Radarflugzeugen zur Durchsetzung der Flugverbotszone an der Luftraumüberwachung und Feuerleitplanung. Um Präsenz an der NATO-Südflanke und Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei zu zeigen, entsandte die Bundeswehr 1991 Jagdbomber und Flugabwehrraketen in die Türkei sowie einen Minenabwehrverband ins Mittelmeer. Nach dem Golfkrieg versorgten Soldaten der Luftwaffe kurdische Flüchtlinge im Irak mit Hilfsgütern. Im ersten größeren und längerfristigen Auslandseinsatz betrieben rund 150 Sanitätssoldaten vom 22. Mai 1992 bis zum 12. November 1993 ein Feldlazarett in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Hier wurde am 15. Oktober 1993 der erste deutsche Soldat im Einsatz erschossen: der 26-jährige Sanitätsfeldwebel Alexander Arndt.
 

Riskanter Einsatz am Horn von Afrika

Eine Zäsur stellte der Einsatz der Bundeswehr im afrikanischen Somalia dar. Ein Bürgerkrieg mehrerer Clans bewirkte den Zerfall staatlicher Strukturen sowie die Zerstörung der Infrastruktur. Gleichzeitig mit einer Dürre führte dies zu einer Hungersnot, die nach Schätzungen 300.000 Todesopfer – darunter viele Kinder – forderte. Etwa zwei Millionen Somalis waren auf der Flucht. Um eine Waffenruhe zu überwachen und humanitäre Hilfe für die von Bürgerkrieg und Hunger betroffene Bevölkerung zu koordinieren, entsandte die UNO im April 1992 eine Friedensmission, die UNOSOM I. Seit August 1992 unterstützten Soldaten der Bundeswehr in Transportflugzeugen der Luftwaffe eine Luftbrücke zur Versorgung der Bevölkerung.

Als die Mission mit 50 Beobachtern und 500 leicht bewaffneten pakistanischen Blauhelmsoldaten – insgesamt 3500 Sicherheitskräften – zu scheitern drohte, ermächtigte der UN-Sicherheitsrat am 3. Dezember 1992 eine internationale Eingreiftruppe unter Führung der USA. Bundeskanzler Helmut Kohl bot dem UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali die Entsendung deutscher Unterstützungstruppen an. Über die zunehmenden und riskanteren Missionen, die als „humanitärer Schutz mit militärischen Mitteln“ zur neuen Aufgabe der Bundeswehr erklärt wurden, entbrannte eine innenpolitische Kontroverse. In deren Mittelpunkt standen die verfassungsrechtlichen und politischen Aspekte eines Bundeswehrauftrags außerhalb des NATO-Bündnisgebietes und die psychologischen Reaktionen, die ein solcher Einsatz in der Bevölkerung auslösen könnte.

Politischer Streit auf dem Rücken der Soldaten

In den Wortmeldungen und Beiträgen kam eines zu kurz: die Sorgen und Forderungen der Soldaten. Unter dem Titel: „Zur Sache: Todesrisiko ohne Rechtssicherheit“ stellte der Bundesvorsitzende des DBwV, Rolf Wenzel, im Leitartikel des Februarmagazins der „Bundeswehr“ klar, dass sie es sind, die solche Aufträge auszuführen haben. Deshalb dürfe es nicht hingenommen werden, „dass Soldaten unter Lebensgefahr ‚out of area‘ eingesetzt werden, während daheim die dafür verantwortlichen Politiker über die Rechtmäßigkeit derartiger Einsätze streiten“. Der Bundesvorsitzende bekräftigte die eindeutige Position des DBwV, dass Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes nur nach entsprechender Klarstellung des Bundeswehrauftrages im Grundgesetz zulässig sind. Der Verband wies daher Pläne zurück, derartige Einsätze „am Grundgesetz vorbei durch ein einfaches ‚Entsendegesetz‘ zu regeln“. Als „Etikettenschwindel“ bezeichnete der Bundesvorsitzende den Versuch, eine verfassungsrechtliche Klärung dadurch zu umgehen, indem man ihm „das Mäntelchen humanitärer Hilfeleistung umhängt“, da bewaffnete Auseinandersetzungen nicht auszuschließen seien, bei denen es Tote und Verletzte geben könne. Für die Interessenvertretung der Soldaten führe deshalb kein Weg an der Schaffung von Rechtssicherheit vorbei. Dringend mahnte der DBwV ein Gesetz über die dienst- und versorgungsrechtliche Absicherung der Soldaten für internationale Einsätze an. Bereits beim Einsatz deutscher Soldaten im Kambodscha hatte die Regierung eine öffentliche Bürgschaftserklärung für den möglichen Ausfall von Versicherungsleistungen abgeben müssen.

Verfassungsrechtliche Klarstellung ist erforderlich

Die Verteidigung des Vaterlandes und der Bündnispartner bildete die Grundlage für die Entscheidung, sich als Soldat für den Dienst in der Bundeswehr zu verpflichten. Wie verhielt es sich nun mit Einsätzen, die darüber hinausgingen? Die fehlende verfassungsrechtliche Klarstellung löste eine Debatte aus, inwieweit derartige Einsätze durch die „gesetzliche Pflicht zum treuen Dienen sowie Eid und Gelöbnis des Soldaten“ gerechtfertigt sind. Um diesen Bedenken Rechnung zu tragen sowie aus ethischen wie praktischen Gründen plädierte Rolf Wenzel dafür, bei Kriseneinsätzen außerhalb des NATO-Gebiets das freiwillige Engagement der Soldaten zu nutzen.

Am 21. April 1993 beschloss die Bundesregierung, die Operationen der Vereinten Nationen in Somalia (UNOSOM II) durch Entsendung eines verstärkten Nachschub- und Transportbataillons der Bundeswehr zu unterstützen. In einer „befriedeten Region“ sollte es bei Aufbau, Unterstützung sowie Sicherstellung der Verteilerorganisation für Hilfs- und Logistikgüter mitwirken. Der „Deutsche Unterstützungsverband Somalia“, dem lediglich das Recht zur Selbstverteidigung zugestanden wurde, bestand aus 1725 Männern und Frauen aus ca. 200 Verbänden, die nach einem einwöchigen Lehrgang in Hammelburg in das somalische Belet Uen entsandt wurden. In dieser Region war das Ansehen der Deutschen durch zurückliegende Entwicklungshilfeprojekte geprägt und insgesamt positiv.

Mit dem Eintreffen des Vorauskommandos in einer Transall begann am 16. Mai 1993 die Geschichte der bewaffneten Auslandseinsätze der Bundeswehr. Der ursprüngliche Auftrag bestand darin, eine indische Kampfbrigade auf dem Weg in den Norden logistisch zu unterstützen. Als die indischen Soldaten kurzfristig nach Süden verlegt wurden und auf sich warten ließen, betätigten sich die deutschen Soldaten in einer Verlegenheitslösung als „militärische Entwicklungshelfer“, leisteten medizinische Hilfe, bauten Schulen, ein Waisenhaus, eine Wasseraufbereitungsanlage, bohrten Brunnen und setzen Straßen sowie Dämme instand. Kaum etwas davon hatte Bestand.

„Humanitärer Schutz mit militärischen Mitteln“ scheiterte

Die beschaulichen fotografischen Impressionen, aus Belet Uen mit denen die Oktoberausgabe der „Bundeswehr“ auf einer Doppelseite aufmachte, prägten fortan das Bild künftiger Auslandseinsätze deutscher Soldaten und halfen bei deren Legitimation in der der deutschen Öffentlichkeit. Die Legende einer humanitären Hilfsaktion in befriedetem Gebiet zerschellte allerdings an der Realität. Im Juli 1993 geriet das Camp des Bundeswehr-Verbindungskommandos in Mogadischu unter Beschuss aufständischer Milizen. Im Januar 1994 wurde ein ins Lager eingedrungener Somali nach mehreren vergeblichen Warnschüssen durch einen Wachsoldaten erschossen. Da war die Entscheidung für den Abzug des deutschen Kontingents bereits beschlossen. Die „Schlacht von Mogadischu“ am 3./4. Oktober 1993 mit den schockierenden Bildern getöteter und durch die Straßen Mogadischus geschleifter US-Soldaten machte deutlich, dass mit den militärischen Mitteln eine Befriedung und Stabilisierung des Landes gegen die schwerbewaffneten Warlords am Horn von Afrika nicht zu erzwingen war. Am 23. März 1994 verließen die letzten deutschen Soldaten Somalia.

Begründung des Parlamentsvorbehalts

Wichtige Forderungen des DBwV fanden in dem im Juli 1993 durch Bundestag und Bundesrat angenommenen Auslandsverwendungsgesetz, das rückwirkend zum 1. Juli 1992 in Kraft trat, ihre Umsetzung. Es war gelungen, die Parlamentarier davon zu überzeugen, alle im Entwurf als Kannbestimmungen ausgewiesenen versorgungsrechtlichen Ansprüche in Bezug auf Unfallruhegehalt, Wehrdienstbeschädigung, Unfallentschädigung sowie Schadenersatzansprüche in Mussbestimmungen umzuwandeln.

Unter Anwesenheit des im Oktober 1993 gewählten DBwV-Bundesvorsitzenden Bernhard Gertz beendete das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 das durch den Verband heftig kritisierte „Todesrisiko ohne Rechtssicherheit“. Es entschied, dass die Beteiligung deutscher Soldaten an NATO-Einsätzen und UN-Missionen durch das Grundgesetz gedeckt ist. Die Regierung müsse jedoch die Zustimmung der der Legislative, des Deutschen Bundestags, einholen. Damit begründete es den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt.

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