70 Jahre Bundeswehr: Verpflichtung gegenüber Europa und eine gesunde Vaterlandsliebe
Vor 75 Jahren wurden in der Himmeroder Denkschrift die Grundlagen für neue deutsche Streitkräfte aufgeschrieben – fünf Jahre später, am 12. November 1955, wurde die Bundeswehr mit der Vereidigung der ersten Freiwilligen gegründet. Ein Gespräch mit Generalmajor Ansgar Meyer, Kommandeur des Zentrums Innere Führung.
Die Bundeswehr: Die Sicherheitslage in Westeuropa war prekär, als ehemalige Soldaten des Heeres, der Luftwaffe und der Marine im Oktober 1950 im Kloster Himmerod zusammenkamen, um die Grundlagen einer neuen deutschen Armee zu besprechen ...
Generalmajor Ansgar Meyer: Um die Grundgedanken für die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der jungen Bundesrepublik Deutschland zu erfassen, ist es zunächst notwendig, sich die damalige Sicherheitslage und die außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen vor Augen zu führen. Die Welt befand sich 1950 im Kalten Krieg – in einer sich bereits nach 1947 entwickelnden globalen, binären Blockbildung von demokratischer westlicher Staatsform und dem Kommunismus im Osten. Auseinandersetzungen wurden mit allen möglichen Mitteln geführt, in den sogenannten „Stellvertreterkriegen“ eben auch mit militärischen. Deutschland nimmt in dieser bewegenden Zeit eine wichtige Rolle ein: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die westlichen Alliierten ihre Truppenpräsenz in Deutschland schnell reduziert und auf die Aufgaben zum Erhalt der allgemeinen Sicherheit sowie der Verwaltung in den Besatzungszonen zugeschnitten. Demgegenüber stand eine erdrückende konventionelle Überlegenheit sowjetischer Streitkräfte, die nach der Einschätzung der sicherheitspolitisch Verantwortlichen nur durch die atomare Unterlegenheit von einer weiteren Expansion in Europa abgehalten wurden. Der Bedrohung musste ein wirksamer Schutz entgegengesetzt werden. Eine Lösung war die Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik.
Sie war von der Zustimmung der westlichen Siegermächte abhängig. Bei den Alliierten waren die Erinnerungen an den durch Deutschland entfachten Weltkrieg und die einhergehenden deutschen Verbrechen noch frisch und Ängste vor einem Wiedererstarken deutscher Militärmacht gerade auch in einem Nachbarland wie Frankreich groß. Zudem war den Verfassern der Himmeroder Denkschrift bewusst, dass nur die Einbindung in eine europäische Verteidigungskoalition neben der Akzeptanz der Partner auch ausreichende Potenziale und Fähigkeiten für eine wirkungsvolle Abschreckung bieten würde. Letztlich gab es mit Auflösung der Wehrmacht und der Demontage der Rüstungsindustrie in der jungen Bundesrepublik keine eigenen Verteidigungsmittel – eine Streitmacht „aus dem Nichts“ konnte nur mit Unterstützung der Alliierten aufgebaut werden. Aus diesen Erwägungen folgte die grundsätzliche Idee der Aufstellung neuer deutscher Streitkräfte fest integriert in eine „europäisch-atlantische Gemeinschaft“ und militärisch gleichberechtigt bei gleichzeitiger Anerkennung der vollen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Diese vollständige Integration bei gleichzeitiger Emanzipation sollte verhindern, dass Deutschland in möglichen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West als „Vorfeld“ des Schlachtfelds alliierter Verteidigung instrumentalisiert wird.
Auch innenpolitisch stand die Integration neuer deutscher Streitkräfte in die demokratischen Strukturen im Mittelpunkt. Es sollten die in „früheren Gliederungen vorhandenen Fehler“ vermieden und die Grundsätze des politischen Aufbaus der Republik so weit wie möglich auf die Streitkräfte übertragen werden. Diesem Gedanken folgend widmete die Himmeroder Expertengruppe neben Überlegungen zur festen Einbindung in die politischen Entscheidungsstrukturen ein ganzes Kapitel dem Thema des „Inneren Gefüges“, der Grundlage für die spätere Konzeption der Inneren Führung.
Die Bundeswehr: Eine erste Zäsur in der Himmeroder Denkschrift war, dass die Experten im Kloster sich einen zivilen Oberbefehlshaber wünschten. Wie kam es zu diesem deutlichen Bruch mit der unseligen Vergangenheit?
Generalmajor Meyer: Die Himmeroder Experten wollten mit der festen Integration neuer deutscher Streitkräfte in europäische und nationale politische Strukturen „ausreichende Einflussmöglichkeiten“ und Kontrolle schaffen, um die Entwicklung des Militärs zu einem Staat im Staate zu verhindern, dem Missbrauch von Streitkräften vorzubeugen und Vertrauen bei der Bevölkerung und den Alliierten in die Zuverlässigkeit einer neuen deutschen Armee zu fördern.
Die Verpflichtung des Soldaten sollte nicht auf eine Person, sondern auf das deutsche Volk, repräsentiert im Amt des Bundespräsidenten, erfolgen. Die Führung sollte eng mit dem Minister, dem Kanzler und dem Parlament verknüpft werden, die für Personal zuständige Abteilung aus den Streitkräften herausgelöst die Kontrolle über das militärische Personal sicherstellen. Dies spiegelt sich heute noch im Recht des Bundespräsidenten zur Ernennung und Entlassung von Offizieren wider.
Die Bundeswehr: Man forderte Soldaten, die gut geschult, selbstständig denkend und handelnd sein sollen. Das war genau das Gegenteil zum Kadavergehorsam in der Wehrmacht. Wie wurde dieses neue Denken aufgenommen?
Generalmajor Meyer: Zunächst müssen wir festhalten, dass es auch in früheren deutschen Armeen und natürlich auch in der Wehrmacht den Gedanken des selbstständig handelnden Soldaten gegeben hatte. Die Philosophie des Führens mit Auftrag wurde nicht erst von den Himmeroder Experten entwickelt. Die bundeswehreigene Traditionslinie der preußischen Heeresreformer bestätigt dies.
In der Zeit der Wiederbewaffnung war die deutliche Abgrenzung zur Wehrmacht essenziell, um in die DNA neuer deutscher Streitkräfte die Idee des verantwortungsbewussten, der Demokratie verpflichteten Soldaten mit gewissensgeleitetem und verantwortungsvollem Gehorsam zu pflanzen.
Wie dieser Gedanke in der alltäglichen Praxis von den Soldaten aufgenommen wurde, lässt sich heute nur schwer nachvollziehen. Was sich sehr wohl nachvollziehen lässt, ist der Wille der politischen und militärischen Führung, die Innere Führung von Anfang an konsequent umzusetzen. Bereits unmittelbar nach der Indienststellung der Streitkräfte am 20. Januar 1956 wurde zum 1. Oktober desselben Jahres in Andernach und damit in Nähe zum politischen Bonn die Schule für die Innere Führung mit Pflichtlehrgängen für Kommandeure, Kompaniechefs und Spieße eingerichtet – der Vorläufer des heutigen Zentrums Innere Führung.

Die Bundeswehr: Die „Innere Führung“, die auf der Himmeroder Denkschrift fußt, ist sicher die bemerkenswerteste Neuerung für die damals neue Armee in der Bundesrepublik: Was sind die wichtigsten Grundsätze?
Generalmajor Meyer: Mit den Ideen im Abschnitt V „Inneres Gefüge“ der Himmeroder Denkschrift sollte ohne „Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundsätzlich Neues“ geschaffen werden. Freiheit, soziale Gerechtigkeit und die Verpflichtung gegenüber Europa bei gleichzeitiger „gesunder Vaterlandsliebe“ sollten politische Merkmale der Soldaten des deutschen Kontingents sein. Man forderte vom Einzelnen die innere Überzeugung zur demokratischen Staats- und Lebensform zu stehen und dies mit Eid oder feierlicher Verpflichtung zu untermauern. Die Experten schlugen zudem politische und soldatische Verpflichtungen in den Soldatenpflichten sowie eine Neuordnung der Rechtspflege und der Wehrdisziplinarordnung und umfassende Beteiligungsmöglichkeiten vor.
Charakterbildung und Erziehung sollten dieses neue Bild des deutschen Soldaten stärken, ihm die „innere Festigkeit gegen eine Zersetzung durch undemokratische Tendenzen“ geben und das „Bewusstsein des Soldaten für die soziale Einordnung ohne Sonderrechte und unter Wahrung der Menschenwürde“ stärken. All das finden wir noch heute in unserem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform.
Die Bundeswehr: Wie wichtig sind diese Grundsätze heute noch?
Generalmajor Meyer: Die Grundsätze der Himmeroder Denkschrift transportieren unser Menschenbild, unsere Wertegebundenheit und die feste Integration in Staat und Gesellschaft. Sie sind 75 Jahre seit Niederlegung der Himmeroder Denkschrift und der späteren Entwicklung des Konzepts der Inneren Führung weiterhin gültig, behalten angesichts der großen Herausforderungen in der Landes- und Bündnisverteidigung und den Auslandseinsätzen ihre Wichtigkeit und bilden die Grundlage für unsere Führungs- und Organisationskultur. Sie garantieren, dass unsere Soldatinnen und Soldaten in Extremsituationen am Rande der Belastbarkeit und des Erträglichen ihren Auftrag zum Erfolg führen. Nicht die Theorie und die Auslegung der Konzeption sind wichtig, sondern Innere Führung im Alltag, im Einsatz und letztlich auch im Krieg zu erleben. Es gilt, sie selbst überzeugt leben zu können, weil sie vorgelebt wird. Das viel beschworene richtige Mindset ist in Extremsituationen mindestens genauso wichtig wie die professionelle Ausbildung. Mindset und Professionalität bilden die Grundlage, erfolgreich im Kampf zu bestehen.

Die Bundeswehr: Wäre die Reaktivierung des verpflichtenden Grundwehrdienstes, der 2011 abgeschafft worden ist, eine Möglichkeit, das Bewusstsein für die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Breite der Gesellschaft wieder zu schärfen?
Generalmajor Meyer: Ich trat 1984 meinen Dienst als Wehrpflichtiger in der Bundeswehr an. Ich bin mir nicht sicher, ob das Bewusstsein in der Bevölkerung damals „schärfer“ war als heute. Unstrittig höher war sicherlich die Betroffenheit, da die Wehrpflicht fast jede Familie erreichte und damit die Bundeswehr insgesamt in der Wahrnehmung präsenter war. Die vergangenen 30 Jahre waren durch eine, wie wir heute wissen, falsche Perzeption eines andauernden Friedens in Europa geprägt, in dem deutsche Soldatinnen und Soldaten in fernen Gebieten eingesetzt wurden.
Ich bin persönlich ein Verfechter der Wehrpflicht – die übrigens nie abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt wurde. Ohne sie wäre ich wahrscheinlich nie Soldat geworden und es bis heute geblieben.
Ein aktuell wie auch immer gestalteter Wehrdienst würde nicht nur die Wahrnehmung in der Bevölkerung, sondern die Betroffenheit in der Gesellschaft erhöhen und zudem die Grundlage zur Gewinnung des dringend benötigten Personals deutlich verbessern.
Die Bundeswehr: Inwieweit ist die Innere Führung in den 75 Jahren seit der Tagung in Himmerod weiterentwickelt worden?
Generalmajor Meyer: Der Kern der Inneren Führung mit unserem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, unserer Wertegebundenheit, dem gewissensgeleiteten Gehorsam und der festen Integration in Staat und Gesellschaft hat nach wie vor Bestand. Im Sinne des „Fortschritts als weitergeführte Tradition“ (Carl Friedrich von Weizsäcker) hat sich auch die Innere Führung im Laufe der Jahre verändert. So, wie sich die Menschen wandeln, die zu uns kommen, oder die wir für uns gewinnen wollen. Sie wandelt sich, ohne die grundsätzliche Ausrichtung, den Wesenskern zu verändern. Der Rekrut oder die Rekrutin von heute ist anders sozialisiert als vor 40 Jahren, als ich Soldat wurde. Ebenso haben sich moderne Streitkräfte anderen militärischen Anforderungen zu stellen. Als prominente Beispiele mögen die seinerzeit neuen Aufgabenfelder der Vorbereitung und Nachbereitung der Auslandseinsätze in Trainings, der Aus- und Weiterbildung und der Entwicklung der Betreuung in der Einsatzbegleitung und nach Rückkehr sowie die stete Weiterentwicklung der Beteiligungsrechte oder die aktuelle Neuausrichtung auf Kriegstüchtigkeit im Rahmen der neu priorisierten Landes- und Bündnisverteidigung dienen.