Reichswehr bei der Besetzung der Stadt Freiberg: Am 27. Oktober 1923 fordert das Vorgehen der Soldaten bei der Auflösung einer Blockade und gegen Demonstranten 29 Todesopfer.  Foto: Deutsches Historisches Museum

Reichswehr bei der Besetzung der Stadt Freiberg: Am 27. Oktober 1923 fordert das Vorgehen der Soldaten bei der Auflösung einer Blockade und gegen Demonstranten 29 Todesopfer. Foto: Deutsches Historisches Museum

12.08.2023
Von Michael Rudloff

Der gnadenlose „Sachsenschlag“

Vor 100 Jahren setzte die Regierung der Weimarer Republik die Reichswehr gegen die Protagonisten von Unruhen in Sachsen und Thüringen in Marsch und beendete damit das Experiment einer kommunistischen Regierungsbeteiligung.

 

Am Mittag des 29. Oktober 1923 übermittelte Hauptmann Friedrich Olbricht in der Landeshauptstadt Dresden der sächsischen Regierung die Amtsenthebung und die Ernennung von Rudolf Heinze zum Reichskommissar. Dieser hatte bereits zum Ende der Monarchie kurzzeitig an der Spitze des sächsischen Gesamtministeriums gestanden. Der Ministerpräsident Dr. Erich Zeigner und die Minister der Koalitionsregierung aus SPD und KPD wurden „ersucht“, bis 14 Uhr ihre Geschäftszimmer für ihre Amtsnachfolger zu räumen. Bereits eine Viertelstunde nach Ablauf dieser Frist marschierte das 2. Bataillon des Infanterieregiments 7 mit Musik im Regierungsviertel auf. Die Entfernung der Regierung sei unter Beachtung der „gesellschaftlichen Formen“ erfolgt, hieß es dazu aus dem Reichswehrministerium in Berlin.

Dieser bis dahin einmalige Vorgang der Absetzung einer Landesregierung durch die Reichsregierung auf der Grundlage des Paragraph 48 der Reichsverfassung wird auch nach nunmehr 100 Jahren je nach Standpunkt der Betrachter ambivalent beurteilt. Vorherrschend ist die Auffassung, wonach der durch die Reichswehr ausgeführte „Sachsenschlag“ die Republik vor einer Regierung gerettet hat, die das Reich destabilisiert und einem kommunistischen Putschversuch Vorschub geleistet habe. Schwerer haben es dagegen Stimmen, die in dem Scheitern des „linksrepublikanischen Projekts“ eine vertane Chance zur Stabilisierung der Republik von Weimar sehen.

Soziale Konflikte eskalieren

Seit der Revolution 1918 wurde Sachsen von sozialdemokratisch geführten Kabinetten regiert – bis 1920 in Koalitionen mit der linksliberalen DDP, später von den Kommunisten toleriert. Trotz der fragilen Konstruktion war bis zum Beginn des Jahres 1923 die Bilanz der Struktur- und Arbeitsmarktpolitik durchaus positiv. Als 1923 in Folge der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen und des passiven Widerstands die Inflation außer Kontrolle geriet, verschlechterten sich die Lebensbedingen jedoch dramatisch. In den vom Export abhängigen sächsischen Industriegebieten fehlte es an Brot und Kartoffeln. Konflikte entluden sich in Hungerunruhen und Demonstrationen, die an mehreren Orten in entwürdigende Rituale einer „proletarischen Abrechnung“ mit den Arbeitgebern und in Plünderungen ausarteten. Von den sächsischen Behörden und der Polizei fühlten sich die Unternehmer im Stich gelassen. In zahlreichen Interventionen forderten sie von der Reichsregierung ein Eingreifen gegen die Landesregierung, welche sie für die Missstände verantwortlich machten.

Hilfspolizei oder Bürgerkriegsarmee?

Für Beunruhigung sorgte die Einwilligung der Regierung zum Aufbau „Proletarischer Hundertschaften“. In Sachsen verfügten sie etwa über 16.700 Mitglieder aus SPD und KPD. Die Hundertschaften sollten vor allem als Schutz für die Einrichtungen der Arbeiterorganisationen, bei Versammlungen und zur Bewachung von Feldern auftreten. Sie waren aber auch als Hilfspolizei bei einem möglichen Angriff der Rechtsverbände von Bayern aus vorgesehen.

Nach den offiziellen Richtlinien waren die Hundertschaften nicht bewaffnet. Allerdings besorgten sich vor allem kommunistische Mitglieder aus eigner Initiative Schusswaffen. Seit Ende August erfolgte die planmäßige Bewaffnung – mit mäßigem Erfolg. Der militärische Wert der Hundertschaften wurde als gering bewertet. Gelegentliche Übergriffe begründeten ihren Ruf als „Instrument des … regierungsseitig geduldeten Terrors des Straßenmobs“. Aus dieser Gemengelage zeichnete sich zunehmend der Gegensatz zwischen sächsischer Regierung und Reichswehrführung als zentralem, auf eine gewaltsame Lösung drängenden Konfliktherd ab.

Die Landesregierung im Konflikt mit der Reichswehr

Der sich aufschaukelnde Konflikt erhielt durch die persönliche Feindschaft zwischen dem Befehlshaber im Wehrkreis IV (Dresden), Generalleutnant Alfred Müller, und Ministerpräsident Zeigner zusätzliche Dynamik. Zugrunde lag die gegensätzliche Strategie zur Beilegung der Bestimmungen des Versailler Vertrags. Hoffte Zeigner darauf, dass eine Einhaltung der Bestimmungen des Versailler Vertrags die Alliierten zu einem Entgegenkommen und zu Zugeständnissen gegenüber Deutschland bewegen würde, setzte die Reichswehrführung darauf, diese Bestimmungen zu unterlaufen. Über entsprechende Aktivitäten war die sächsische Regierung informiert.

Bei einer Besprechung am 30. Mai 1923 mit Reichswehrminister Otto Geßler, an der neben Zeigner und seinem Innenminister Liebmann auch General Müller teilnahm, erklärte Geßler, „dass der Heeresleitung sogenannte überzählige Waffenbestände zur Verfügung stehen, die über die in dem Friedensvertrag und den damit zusammenhängenden Bestimmungen getroffenen Festsetzungen hinausgehen“. Nachdem der Innenminister die gleiche Erklärung für die sächsische Staatspolizeiverwaltung abgegeben hatte, einigte man sich darauf, „derartige Angelegenheiten nicht zum Gegenstand öffentlicher Diskussion“ zu machen. Als Zeigner dennoch gegen die heimliche Vergrößerung der Reichswehr polemisierte, galt dies als Vertrauensbruch und Landesverrat. Zusätzlich Öl ins Feuer goss die sächsische Regierung, indem sie den direkten Kontakt zwischen Polizei und Reichswehrorganen untersagte und die Reichswehr durch Polizeiorgane überwachen ließ. Material über die Kooperation mit deutsch-völkischen und nationalsozialistischen Bewegungen meldete sie dem Reichswehrministerium.

Die Reichswehr stellte daraufhin den persönlichen Verkehr mit der Landesregierung ein. Minister Geßler ließ im September erklären, dass er mit dem Wehrkreiskommando IV die Ansicht teile, „es könne einem ehrliebenden Soldaten nicht mehr zugemutet werden, mit dem Ministerpräsidenten Dr. Zeigner zusammen die Verfassungsfeier zu begehen und überhaupt weiter mit ihm zu verkehren“.

Nachdem französische Zeitungen die Enthüllungen der sächsischen Regierung dankbar aufgriffen, forderte Geßler zunehmend drängender die Ablösung des Ministerpräsidenten, der aus innenpolitischen Gründen „den Interessen Deutschlands dem Auslande gegenüber schweren Schaden zugefügt“ habe. Veranlasst durch Bayern, das die Autorität der Reichsregierung offen in Frage stellte, verhängte der Reichspräsident am 26. September 1923 den Ausnahmezustand über das Reich. Dadurch erhielt in Sachsen der Wehrkreisbefehlshaber Müller die vollziehende Gewalt. Er verbot die Proletarischen Hundertschaften und unterstellte die sächsische Polizei seinem Befehl.

Die „Deutsche Oktoberrevolution“ wurde abgesagt

Der Auflösung dieses unüberbrückbaren Konfliktes spielten die kommunistischen Aufstandsvorbereitungen ungewollt in die Hände. In Moskau sahen die Führer der Kommunistischen Internationale den Zeitpunkt für einen „Deutschen Oktober“ gekommen. Mit dem Eintritt in die Regierungen Sachsens und Thüringens am 10. bzw. 16. Oktober sollte die KPD die Verfügung über Waffen erlangen. Der Aufstandsplan scheiterte aus mehreren Gründen, bevor er zur Ausführung kam. Im Reich hatte die Bildung der Regierung der Großen Koalition unter Gustav Stresemann im August 1923 eine Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Lage bewirkt. Die SPD-geführten Regierungen Sachsens und Thüringens hatten den kommunistischen Ministern den Zugang zu sicherheitsrelevanten Ressorts verweigert.

Ab dem 20. Oktober marschierte die Reichswehr in Sachsen ein. Sie mobilisierte dabei auch die Reserven der „Schwarzen Reichswehr“, welche fast ausschließlich aus Angehörigen rechtsradikaler Organisationen bestanden. Im Gegensatz zu den regulären Truppen verschuldeten diese Einheiten zahlreiche Übergriffe gegen tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Arbeiterparteien.

Die zum 21. Oktober nach Chemnitz einberufene Arbeiterkonferenz quittierte den Vorschlag des KPD-Vorsitzenden und Leiters der Staatskanzlei, Heinrich Brandler, den Generalstreik auszurufen und damit die Revolution auszulösen, mit „eisiger Ablehnung“. Die „Deutsche Oktoberrevolution“ hatte sich als Illusion erwiesen und war abgesagt, lediglich in Hamburg kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die 101 Menschenleben forderten. Dass die damalige Führung der KPD das Kräfteverhältnis zur Kenntnis nahm und sich ihre Minister in den beiden Regierungen bis zu ihrer Absetzung bzw. Rücktritt an parlamentarische Spielregeln hielten, wurde ihnen in der späteren kommunistischen Legendenbildung als Versagen, wenn nicht Verrat, angelastet.

Am 27. Oktober forderte der Reichskanzler die Regierung Zeigner ultimativ zum Rücktritt auf. Er begründete dies mit der Rede Brandlers auf der Chemnitzer Konferenz. Mit der Anwendung des Paragraphen 48 gegen eine Landesregierung war ein Präzedenzfall geschaffen. Anders als Papen bei der Absetzung der preußischen Regierung im Juli 1932 machte Stresemann im Herbst 1923 von diesem problematischen Instrument zurückhaltend Gebrauch. Er entband Heinze bereits am 1. November von seiner Aufgabe als Reichskommissar und durchkreuzte damit dessen Plan, im Zusammenwirken mit General Müller, ein Beamtenkabinett unter Ausschaltung des Parlaments zu installieren.

Mit der schnellen Bildung einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung, die durch die DDP toleriert wurde, konnten in Sachsen verfassungsmäßige Zustände hergestellt werden. Die von beiden Seiten im Krisenjahr 1923 vorangetriebene Entfremdung zwischen der Reichswehr und linken Republikanern belastete allerdings die Weimarer Republik mit einer schweren Hypothek.

>>Lesetipp: Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923, Göttingen 2022

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick