Die letzten Soldaten steigen in das Transportflugzeug C-17 der US-Streitkräfte in Mazar-e Sharif/Afghanistan während der Rückverlegung und dem Ende der Mission Resolute Support. Foto: Bundeswehr/Torsten Kraatz

23.10.2022
Von Philipp Münch

Der Primat der Politik: Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr

Gemessen an den eigenen Zielen erscheint das militärische Engagement der NATO in Afghanistan, zu dem die Bundeswehr einen Beitrag leistete, als eindeutig gescheitert. Umso drängender stellt sich die Frage, welche Lehren sich für die Bundeswehr aus ihrem Afghanistan-Einsatz ziehen lassen.

In ihren fast 20 Jahren in Afghanistan meisterte die Bundeswehr viele Herausforderungen, angefangen bei den beeindruckenden logistischen Leistungen bis hin zur insgesamt bemerkenswerten Gewaltzurückhaltung. Ihre Erfolge sind daher stets mitzudenken, allerdings verspricht der Blick auf die – zudem häufig auf der politischen Ebene liegenden – Defizite des Einsatzes einen größeren Erkenntnisgewinn.

Unklarer politischer Zweck

Jede Untersuchung eines Streitkräfteeinsatzes sollte mit der Frage beginnen, welchen politischen Zweck die Regierenden damit verfolgten. Hier beginnt bereits das Problem. Denn offenbar formulierten die Spitzen der sechs mit dem Einsatz befassten Bundesregierungen nie eindeutig, was genau sie warum in dem Land erreichen wollten. Als gesichert kann gelten, dass eine Hauptfunktion des Einsatzes für sie darin lag, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Solidarität gegenüber den USA zu demonstrieren.

Hiervon versprachen sich die Regierenden wohl wiederum, an der Seite der einzig verbliebenen Supermacht die Position Deutschlands in den internationalen Beziehungen zu festigen oder gar zu verbessern. Sie wollten also eher durch Afghanistan als in dem Land etwas erreichen. Das Problem war, dass die Regierenden dies nicht offen kommunizierten. Daher erschien immer mehr Soldatinnen und Soldaten sowie schließlich auch der breiteren deutschen Bevölkerung das Engagement als sinnlos.

Die daraus zu ziehende Lehre lautet, dass die Regierenden den politischen Zweck eines derart komplexen und langwierigen Unterfangens offen benennen und zur Debatte stellen müssen. Erst hierdurch kann politisches Handeln in Demokratien die erforderliche Legitimität in der Gesellschaft erlangen.

Keine kohärente Strategie

Ohne einen eindeutigen politischen Zweck ließ sich keine kohärente Strategie für die Bundeswehr ableiten. Was genau sie wie erreichen sollte und wie sich dies zu den Beiträgen der Verbündeten und Nachbarressorts verhielt, blieb daher oft unklar oder wechselte. Die strategischen Weisungen an die Bundeswehr richteten sich daher oft nach dem, was momentan als politisch opportun erschien. Lange Zeit war dies, eine im Grunde entwicklungspolitische Agenda durchzusetzen.

Im Vordergrund stand dabei verständlicherweise, gleichzeitig den Eigenschutz der Bundeswehr zu garantieren. Mit den zunehmenden Angriffen auf die Truppe insbesondere in Kunduz in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre verschob sich das Gewicht der Entscheidungen hierauf. Den Regierenden ist zu Gute zu halten, dass sie sich größtenteils dem US-Ziel verweigerten, sich an der letztlich erfolglosen, viele Bauern aufwiegelnden Drogenbekämpfung aktiv zu beteiligen.

Die Spitzen der Bundeswehr bewerteten die Lage in Afghanistan gegenüber der politischen Führung die längste Zeit zu positiv. Damit verhinderten sie, dass die strategischen Defizite offener zu Tage traten. Die Lehre aus dem Strategiedefizit des Einsatzes liegt damit auf der Hand: Strategische Planer müssen die politische Führung immer wieder dazu drängen, einen klaren politischen Zweck zu formulieren. Unrealistisch positive Lagebewertungen erweisen sich dabei als kontraproduktiv.

Aussichtslose Aufstandsbekämpfung

Trotz ihrer Aufbauhilfen bestand der Hauptauftrag der Bundeswehr in militärischen Aufgaben. Um die afghanische Regierung zu unterstützen und sich selbst zu schützen, musste sie daher auch gegen die Aufständischen vorgehen. Ihr Ansatz unterschied sich in mancher Hinsicht von „Counterinsurgency“ der USA. Letztlich beinhaltete er aber ebenso, einerseits die Aufständischen zu bekämpfen und andererseits die Bevölkerung mit Hilfsleistungen von deren Unterstützung abzuhalten.

Wenn auch mit anderen kurzfristigen Bilanzen, so konnten doch alle Verbündeten den Aufstand langfristig nicht erfolgreich bekämpfen. Denn die Masse der Bevölkerung war grundsätzlich unzufrieden mit dem politischen System nach 2001. Dabei besiegen weltweit die meisten Regierungen Aufstände auf ihrem Territorium. Allerdings handelt es sich in diesen Fällen zumeist um autoritäre Regime, deren Vorgehen nicht mit westlichen Menschenrechtsstandards vereinbar ist und den eigenen moralischen Anspruch konterkarieren würde. Die Lehre ist also, dass die Erfolgsaussichten westlicher Aufstandsbekämpfung gering sind.

Fehlende Grundlagen für afghanische Sicherheitskräfte

Der eigentliche Kernauftrag der Bundeswehr bestand darin, die afghanischen Sicherheitskräfte zu befähigen. Dies galt insbesondere nach der „Transition“ von der International Security Assistance Force zur reinen Ausbildungsmission Resolute Support ab 2015. Wie bereits der frühe Verlust von Kunduz-Stadt in demselben Jahr nahelegt, war die Bundeswehr hier nicht erfolgreicher als ihre Verbündeten.

Ein Kernproblem bestand darin, dass die von den USA aus geplante Struktur der afghanischen Nationalarmee eine leichte und dennoch für das arme Land unbezahlbare Version westlicher Streitkräfte war. Wichtige lokale Gegebenheiten blieben somit unberücksichtigt. Dahinter verbirgt sich ein größeres Problem: Afghanistan verfügte über kein gefestigtes politisches Zentrum, das seine Sicherheitskräfte zweckmäßig hätte aufstellen und führen können. Stattdessen fokussierten sich die politischen Fraktionen, die um Macht im Zentrum rangen, zuvorderst darauf, sich an den für die Sicherheitskräfte bereitgestellten Mitteln zu bereichern.

Unmittelbar nachdem fast alle internationalen Truppen das Land verlassen hatten, brachen die afghanischen Institutionen vollständig zusammen. Daher erscheint es unwahrscheinlich, dass der Einsatz mit mehr Mitteln und Zeit oder durch eine bessere Abstimmung der Ressorts erfolgreicher gewesen wäre. Die Lehre ist daher, dass sich staatliche Strukturen von außen ohne ein Mindestmaß an Stabilität kaum aufbauen lassen. Darüber hinaus zeigt der Einsatz, dass sich auf der politischen Ebene verantwortete Defizite bei der grundlegenden strategischen Ausrichtung eines Einsatzes nicht mehr auf der operativ-taktischen Ebene beheben lassen.

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