„Die Menschen sind massiv verunsichert“
Dr. Wolfgang Zink ist Sicherheitsexperte beim Beratungsunternehmen Pricewaterhouse-Coopers. PwC hat eine neue Studie zur Sicherheitslage in Deutschland vorgelegt. Fazit: Die Bürger sind mit vielen Ansichten und Einschätzungen zum Thema weiter als die Politik.
Redaktion: Aus Ihrer Studie geht hervor, dass fast 65 Prozent der Deutschen große Angst vor russischen Angriffen haben, meistens vor hybrider Kriegsführung, 74 Prozent der Befragten finden, dass die inzwischen abgewählte Ampelregierung viel zu wenig für Deutschlands Sicherheit getan hat. Was muss die künftige Regierung mit einem Kanzler Friedrich Merz deshalb jetzt anpacken?
Dr. Wolfgang Zink: Wir sind an einem neuen Wendepunkt angelangt. Die Münchner Sicherheitskonferenz hat das sehr deutlich gemacht. Deutschland muss – auch international – als größte Wirtschaftsmacht in Europa eine stärkere gestaltende Rolle übernehmen. Es wird nicht mehr reichen, wie bisher, sich an die USA anzulehnen. Das Zweite ist, wir müssen mehr für die eigene Sicherheit tun. Die Bevölkerung ist bereit dafür und in vielerlei Hinsicht weiter als die Politik. Dritter Punkt ist, dass auch das Thema eigene Verteidigungsindustrie auf der Agenda oben ist. Das war lange Zeit ein Schmuddelkind. Inzwischen ist die Verteidigungsindustrie nicht nur salonfähig geworden, man erwartet Wunder von ihr. Da wäre es jetzt notwendig, auch von der politischen Seite die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir haben seit Jahren und Jahrzehnten einen hohen Rückstand bei den Ausgaben für Rüstung und somit bei der Ausstattung der Bundeswehr. Die größte Herausforderung ist das Mindset, also die Einstellung der Bevölkerung. Die Ergebnisse der Bundestagswahl sprechen für sich. Wir sehen eine sehr, sehr große Verunsicherung, und ich schaue da manchmal neidisch nach Finnland. Ich hatte vor kurzem erst im Rahmen einer Veranstaltung internationaler Reserveoffiziere die Möglichkeit, mit finnischen Kameraden zu sprechen. Dort ist man in jeder Hinsicht gut vorbereitet.
Das heißt die Finnen – als relativ neues NATO-Mitglied – sind viel besser vorbereitet auf eine mögliche russische Aggression als wir?
Das ist so, sowohl was die Streitkräfte anbetrifft, aber auch, was die zivile Verteidigung und den Zivilschutz anbetrifft. Und nicht zuletzt, wie gesagt, das Thema Mindset. Es muss noch mehr als bisher bei den Menschen ankommen, dass wir eine andere Haltung in der Gesellschaft haben und die Gegebenheiten akzeptieren. Es gibt eine Bedrohung durch Putins Russland.
Der Bundestag hat 2022 nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro beschlossen. Jetzt haben die künftigen Koalitionäre von CDU/CSU und SPD beschlossen, dass es zwar kein neues Sondervermögen Bundeswehr gibt, wohl aber alle Investitionen über ein Prozent des BIP im Einzelplan 14 ohne die Schuldenbremse beschlossen werden können. Wird das reichen?
Das Sondervermögen, das 2022 beschlossen wurde, ist inzwischen ausgeplant. Wir haben in Deutschland ein Bruttoinlandsprodukt von umgerechnet ungefähr 4,3 Billionen Euro. Das heißt, wenn wir nach den bisherigen Zusagen gegenüber der NATO mit ungefähr zwei Prozent rechnen würden, dann lägen wir bei 86 Milliarden Euro, die wir jährlich im Verteidigungshaushalt bräuchten. Aus Bundeswehrkreisen höre ich aber, dass wir aber mindestens drei Prozent bräuchten, Trump fordert fünf Prozent. Es ist nicht damit getan, die Aufwendungen für Verteidigung aus Schulden zu decken, sondern wir müssen zu Verschiebungen im Haushalt kommen, um nachhaltig strukturell diese Aufwendungen abzubilden. Und das sind natürlich schmerzhafte Entscheidungen zu Lasten anderer Bereiche. Der Bundeshaushalt umfasst derzeit gut 480 Milliarden Euro. Der größte Titel, der sich dann anbietet, ist der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Da sind die ganzen Sozialtransfers im Etat. Das muss sich jeder Politiker gut überlegen, ob er Feuer an die sozialpolitische Lunte legt. Also muss man sehen, was möglich ist und was nicht.
Erzählen Sie uns mehr zur Verunsicherung, die Sie ausgemacht haben?
Schon vor seiner Amtsübernahme haben mehr als die Hälfte der von uns Befragten gesagt, dass sich durch eine Präsidentschaft von Donald Trump die sicherheitspolitische Lage in Europa verschlechtern wird. Donald Trump ist ein Meister darin, Unsicherheit zu schüren. Das ist sein Modell. Insofern wissen wir noch gar nicht, wo wir dran sind. Letztlich hat auch der Ausgang der Bundestagswahl gezeigt, dass die Verunsicherung groß ist. Wir haben die AfD bei über 20 Prozent, acht Prozent bei der Linkspartei, fünf Prozent beim BSW. Das sind alles Parteien, die die Zustimmung zur aktuellen Unterstützung der Ukraine massiv infrage stellen. Und wenn jetzt jemand sagt, das kann so nicht weitergehen, und die Europäer zweifeln inzwischen selbst daran, dass es so weitergehen kann, dann reden wir hier über eine sich selbst erfüllende Prophezeiung von Menschen, die Verunsicherung schüren.
Haben Sie im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz damit gerechnet oder befürchtet, dass US-Vizepräsident J.D. Vance so deutlich wird?
Die Stimmung bei der MSC habe ich persönlich als sehr angespannt empfunden. Das lag auch daran, dass der amerikanische Verteidigungsminister im Vorfeld beim NATO-Treffen in Brüssel schon klare Worte gefunden hat. Das war eigentlich die Ansage.
Stichwort Wehrpflicht. Alle Experten sagen inzwischen, dass es ohne nicht mehr geht. Ohne Wehrpflicht könne keine kriegstüchtige Stärke erreicht und keine Reserve aufgebaut werden. Sie selbst sind auch Reserveoffizier und Sicherheitsexperte. Wie sehen die Menschen im Landes das?
Also auch da sind die Menschen weiter als vieles, was momentan diskutiert wird. Was wir sehen, das ist ein stabiles Bild, das wir über die Jahre sehen: Um die 20 Prozent sind dafür, die Wehrpflicht wieder so zu reaktivieren, wie sie mal war. Weitere 20 Prozent sagen, dass sie für eine Wehrpflicht auch unter Einbezug junger Frauen sind, 24 Prozent sagen, dass sie für ein verpflichtendes soziales Jahr für alle jungen Deutschen sind, mit der Wahlmöglichkeit zwischen Wehr- oder Zivildienst, weitere 15 Prozent wollen das auch, aber freiwillig.
Alarmketten, Notvorräte, Bunker und eine Reserve von Krankenhausbetten – fast alles wurde nach dem Ende des Kalten Krieges abgeschafft. Sie haben in Ihrer Studie ermittelt, dass zwei Drittel der Deutschen den Wiederaufbau dieser Kapazitäten als sehr wichtig oder wichtig sehen. Wie kann das gelingen?
Das ist definitiv ein Feld, das einen Turbo braucht. Der Gesamtzusammenhang nennt sich zivile Verteidigung. Das sind vier Säulen. Wir haben die Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, den Zivilschutz, die Notversorgung der Bevölkerung und schließlich die Unterstützung der Streitkräfte. Der Oplan Deutschland hat Bewegung gebracht, aber es bedarf noch einer viel stärkeren Koordination, auch klarerer Informationen, sodass die handelnden Akteure zumindest wissen, woran sie sind. Einzelne Landesregierungen gehen da inzwischen voran, einzelne Kommunen und viele Akteure haben guten Willen. Aber in Summe greifen die Räder noch nicht richtig ineinander.
Wie lange braucht Deutschland, um kriegstüchtig zu sein?
Wenn wir davon reden, dass wir einen russischen Angriff zurückschlagen wollen, dann ist der Zeitrahmen definiert: das Jahr 2029. Ab dann ist damit zu rechnen, dass Russland wieder in der Lage ist, einen Angriff – gegebenenfalls auf NATO-Territorium – durchzuführen. Das heißt, es bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir reden von vier Jahren. Das sind vier Jahre, bis dahin die Fähigkeiten aufwachsen zu lassen und auch ganz neue zu erschließen. Stichwort Weltraum. Stichwort Drohnen.