Belarussische und russische Kampfhubschrauber während einer gemeinsamen Militärübung der beiden Staaten. Foto: picture alliance/Cover Images

26.11.2021
Wolf Poulet

Die Schwachen werden geschlagen: Wie das Machtgefüge sich verschiebt

Wolf Poulet, ehemaliger Oberst i.G., leitet heute ein Unternehmen für internationale Regierungsberatung und diskutiert im Gastbeitrag Fragen und Überlegungen zur geopolitischen Neujustierung: Welche Position wird Deutschland in der Weltordnung von morgen einnehmen?

Der englische Schriftsteller George Orwell schrieb im Jahr 1949 den wohl berühmtesten Zukunftsroman aller Zeiten: „1984“. Zentrales Thema ist „Der Große Bruder“, der jeden seiner Untertanen akustisch und optisch kontrollieren kann. In der dystopischen Weltordnung von „1984“ präsentiert der Autor eine Welt, die in drei Supermächte aufgeteilt ist: Ozeanien, Eurasien und Ostasien.

Die Handlung spielt in London, es gehört zu Ozeanien. Die USA haben das Britische Empire, die beiden Amerikas, Australien und den südlichen Teil Afrikas übernommen. Eurasien umfasst seit der – von Orwell angenommenen – Eroberung Europas durch die Sowjetunion den nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse von Portugal bis zur Beringstraße. Ostasien besteht aus China und den Ländern südlich davon, den japanischen Inseln und Teilen der Mandschurei, der Mongolei und Tibets.

Zum Hintergrund der Entstehung von „1984“
Im Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) kämpfte der Sozialist George Orwell auf Seite der Internationalen Brigaden. Seine persönliche Kriegserfahrung mit den faschistischen Kriegsparteien Italien und Spanien, dem nationalsozialistischen Deutschland sowie desillusionierende Einblicke in das Sowjetsystem haben sich in „1984“ erkennbar niederschlagen.

Wie kam es, dass Orwell Europa als so schwach und die Sowjetunion (SU) so übermächtig einschätzte? Ende der 40er Jahre war die SU vor dem Höhepunkt ihrer Machtentfaltung, ein unüberwindbarer Moloch, seit Sommer 1949 im Besitz von Atomwaffen.

Alle Supermächte führen „1984“ Krieg miteinander, in wechselnder Feindschaft. Immerhin: Nach dem ersten nuklearen Schlagabtausch kam man überein, nur noch konventionelle Waffen einzusetzen.

Wie sieht die Konstellation der Supermächte im Jahr 2021 aus?

Die Supermächte sind heute (fast) die gleichen wie „1984“, aber in neuer Rangfolge. USA und China liegen auf Platz 1a (USA) und 1b (China), die Russische Föderation auf Platz 3. Wie haben sich die realen Supermächte im Vergleich zu „1984“ entwickelt? Zunächst ist von Bedeutung, dass sie nicht aktiv Krieg gegeneinander führen. USA und Sowjetunion waren allerdings von 1945 bis 1989 im Kalten Krieg verstrickt, aus dem die USA führend herauskamen und die Sowjetunion zerfiel.

1. Die rasante wirtschaftliche Entwicklung Chinas hat das geopolitische Kräftedreieck USA-China-Russland unter Druck gesetzt. Die Volksrepublik hat mittlerweile die meisten Kampfschiffe weltweit (ausgenommen Flugzeugträger) und rüstet stetig weiter auf, mit den zweithöchsten Verteidigungsausgaben hinter den USA. China ist heute „systemischer Rivale“ des Westens und beabsichtigt, bis 2049 durch seine führende Armee zur größten Militärmacht zu werden. Aktuelle Medienberichte vermuten, dass China mit dem Bau von mehr als hundert Silos für ballistische Interkontinentalraketen begonnen hat. Die innere Entwicklung verläuft in Richtung eines totalitären Überwachungsstaats. Die selbstbewusste Regierung strahlt bereits heute die beginnende Machtfülle des „Großen Bruders“ aus.

Geopolitische Faktoren zeigen auf, dass China mit 20 Prozent Anteil an der Weltbevölkerung nur über zehn Prozent nutzbare Anbaufläche verfügt. Leitet sich daraus die expansiv-aggressive Außen-Wirtschaftspolitik ab? Außerdem geht es vor allem darum, die „absolute Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas zu zementieren.“ (Xi Jinpings „Rechtsstaatskonzept“, 1. April 2021). Eine lesenswerte SWP-Kurzfassung, ernüchternd in Bezug auf die zukünftige Zusammenarbeit.

2. Im Fall von Russland ist die geopolitische Ausgangslage anders gelagert. Gründe für den Abstieg Russlands sind Schwächen wie a.) hohe Einnahmen aus nationalen Rohstoffen (Rentenökonomie), dabei korrupte Abschöpfung durch die von den Geheimdiensten getragene Staatsführung, b.) es gibt keinen funktionierenden Rechtsstaat und c.) eine primär auf militärische Stärke gestützte Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem gegenüber früheren Mitgliedern der Sowjetunion (keine Softpower). Es gibt nur einen Sektor, auf dem Russland mit den USA paritätisch mithält: die nukleare Bewaffnung.

In fast allen wirtschaftsrelevanten Sektoren liegt die Russische Föderation weit hinter USA und China zurück. Ein Beispiel: Auf der Thomson-Reuters-Liste der 100 globalen Tech-Führer sind die USA mit 45 Firmen, China mit drei und Russland mit keiner vertreten. Wahrscheinlich ist auch, dass China im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte den wirtschaftlichen Einfluss im asiatischen Teil Russlands erheblich verstärken kann.

Betrachtet man das fiktive Schicksal der Staaten unter Russlands Herrschaft im Raum Lissabon bis Wladiwostok wie „1984,“ kann man sich eines Déjà-vus nicht erwehren. Das Deutsch-Russische-Forum e.V. in Berlin propagiert bis heute „Europa von Lissabon bis Wladiwostok: ein alternativloser Weg zur Stabilität Europas.“ Einverstanden – wenn in diesem Europa die demokratischen, rechtlichen und marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie bisher gelten. Ansonsten würde man bald dem russisch sprechenden „Großen Bruder“ Gehorsam schulden.

Die von Präsident Putin Anfang Juli 2021 genehmigte „National Security Strategy“ präsentiert verstaubte Vorwürfe wie „der Westen droht den Russen ihre kulturelle Souveränität zu rauben.“ Immerhin sorgt sich das „Carnegie-Moscow-Center“ (D. Trenin) auch um krasse Schwachstellen innerhalb Russlands.

3. Die künftige Rolle der USA. Angesichts des Aufstiegs Chinas und der Ambitionen Russlands passen die USA ihre Verteidigungsstrategie an. Gemäß der „National Defense Strategy“ von 2018 müssen die USA jederzeit in der Lage sein, eine Großmacht zu schlagen. Der Sieg über zwei Großmächte gleichzeitig ist nicht vorgesehen. Die USA haben, gemessen an den militärischen Mitteln, nach wie vor noch einen deutlichen Vorsprung.

US-Präsident Biden hat den europäischen Partnern enge Kooperation zugesagt. Seine Regierung bekennt sich in aller Entschiedenheit zur Nato und möchte Europa für die amerikanische Politik gegenüber China gewinnen. Auch geostrategische Faktoren zur rationalen Betrachtung von Machtfragen sind von Bedeutung. Ein markantes Beispiel ist der Artikel 5, Nato-Vertrag: Die aktuelle Bekräftigung des US-Präsidenten, dass die Beistandszusage den USA „eine heilige Pflicht“ sei, scheint in ihrer vollen Tragweite noch nicht überall in Europa angekommen zu sein. In den Köpfen der russischen Regierung dürfte diese Verpflichtung jedoch zur konkreten Abschreckung beitragen – und damit militärische Übergriffe auf Nato-Staaten weniger wahrscheinlich machen.

China und USA stehen in einem harten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf um die globale Führung. In dieser Situation sollte eine mittelgroße Wirtschaftsmacht wie Deutschland auf keinen Fall zwischen die Mühlsteine geraten. Frau Merkels unterkühlte Erzwingung der Gaspipeline Nord Stream 2 gegen die USA und gegen fast alle übrigen Europäer ist kein gutes Omen für die neue Rolle Deutschlands! Siehe auch Stephan Bierling: „USA – die Katze der Weltpolitik“, NZZ, 9. April 2021.

Wo ist der Platz Deutschlands in der sich abzeichnenden Weltordnung?
Beschämend ist die in Deutschland verbreitete Unterwürfigkeit linker wie auch rechtsextremer Politiker und Journalisten an die Adresse des Kremls. Die Protagonisten kennen nicht das Leitmotiv von Präsident Putin, das er als junger Mann in Leningrad angenommen hat: Die Schwachen werden geschlagen! National-spezifische Überzeugungen einer Großmacht sind ein geostrategischer Faktor – man sollte sie einschätzen können.

Viele Deutsche verfügen nicht über ein zeit-historisches Gedächtnis: 1945, nach der totalen Niederlage Deutschlands haben die USA, damals einzige atomare Weltmacht, dem besiegten Deutschland materielle und demokratie-relevante Unterstützung gewährt. Das fängt mit der „amerikanischen Zone“ der BRD an, wo Ende der 40er Jahre Schulkinder mit Hühnersuppe versorgt wurden. Es geht weiter mit gepflegten kostenlosen Bibliotheken (Amerikahäuser), mit US-Carepaketen, die nicht nur von Verwandtschaft, sondern jahrelang von unzähligen US-Bürgern in die BRD geschickt wurden. Schließlich wäre ohne die Unterstützung von US-Präsident Bush (d. Älteren) keine Wiedervereinigung möglich gewesen.

Die deutschen Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und Universitäten waren bisher nicht in der Lage, außen- und sicherheitspolitisch auf rein rationaler Grundlage zu agieren. Könnte man das ändern? Entscheidende Voraussetzung dazu ist die intensive Befassung mit geo-politischen /-strategischen Zusammenhängen. Alle anderen Staaten tun es! Deutsche Politik und Wissenschaft sind – bis auf Ausnahmen – auf diesen Feldern so gut wie blind. Aber nur durch die Diskussion geopolitischer Faktoren (Fakten!) ist es möglich, eine verantwortungsethisch vertretbare wie auch sichere Position in der Weltordnung zu finden.

Die drei Großmächte werden noch lange die Weltordnung bestimmen – sie verbleiben dabei vermutlich in stringenter Abgrenzung. „One World isch over!“: In der dreigeteilten Welt stehen die Grundideologien fest: Die autokratisch geführten Großmächte China und Russland sind kommunistisch (vor)geprägt, die USA sind als Demokratie (inkl. Sklaverei) später auf die Welt gekommen. Schwer vorstellbar, dass weiße Suprematisten Amerikas Demokratie annullieren könnten. Wenn aber Deutschland und Europa das freiheitlich-demokratische Staatsmodell beibehalten wollen, gibt es nur einen Weg – die Partnerschaft mit den USA.

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