Dr. Reinhard Erös (M.) im Gespräch mit Stammesältesten in Nangahar, einer der afghanischen Provinzen. Foto: Erös

26.03.2022
Gunnar Kruse

„Schon bald, fürchte ich, werden wir wieder auch in Europa vom IS hören”

Dr. Reinhard Erös ist ein intimer Kenner Afghanistans. Seit mehr als drei Jahrzehnten engagiert sich der Oberstarzt a.D. und Initiator der „Kinderhilfe Afghanistan“ ehrenamtlich im und für das Land. Der NATO-Einsatz am Hindukusch endete Mitte 2021, auch die Bundeswehr zog sich zurück. Im Interview spricht Reinhard Erös über die Auswirkungen.

Die Bundeswehr: Herr Erös, vor Kurzem waren Sie wieder in Afghanistan. Mit welchen Eindrücken sind Sie zurückgekehrt?

Reinhard Erös: Ich war seit dem Abzug der NATO – der „Flucht“, wie der Abzug in Afghanistan genannt wird – mehrfach in Kontakt mit den neuen Machthabern in unseren Projekten im Osten des Landes. Das Horrorbild, das unsere Medien vom Flugplatz in Kabul am 16. August gezeichnet haben, spiegelt sich in den dortigen Dörfern – in denen, wie in ganz Afghanistan, 80 Prozent der Bevölkerung lebt – nicht wider. Gerade im Osten war man froh, dass die westlichen Truppen – hier nur die US-Armee – das Land verlassen hatten. Endlich können die Kinder wieder ohne Angst vor Drohnen- und Hubschraubern, vor Straßenbomben und Gefechten mit den Aufständischen zur Schule gehen, meist ja mehrere Kilometer aus den abgelegenen Dörfern in die nächste Stadt. Die Eltern begrüßen das Ende der nach 20 Jahren einer dank westlicher Unterstützung korrupten Regierung in Kabul. Der vom Westen bis zum Schluss gehätschelte Präsident Ghani hat mit zig Millionen gestohlener Dollar das Land in eine Fünfsterne-Residenz nach Dubai verlassen, ohne hierfür vom Westen kritisiert zu werden. Die Mehrheit der Bevölkerung erhofft sich jetzt endlich eine am klassischen Islam, am afghanischen Wertekodex, dem Paschtunwali, und am Schicksal der einfachen Menschen und nicht am persönlichen Profit und Wohlergehen der Eliten in Kabul orientierte Politik. Eine Rückkehr der „neuen“ Taliban zu den brutalen Regeln der 90er Jahren mit Händeabhacken und Steinigen ist bislang nicht eingetreten und wird auch nicht erwartet. Die enorme „klassische Kriminalität“ aus den vergangenen 20 Jahren mit täglichen Entführungen, Raubüberfällen, Mord, Vergewaltigungen et cetera ist seit Herbst in allen Provinzen rückläufig. Ein befreundeter pakistanischer Ex-General stellte mir vor wenigen Wochen die zynische Frage: „Hat die Bundeswehr von den Amerikanern nach Angriff, Verteidigung und Verzögerung als vierte Operationsart jetzt auch die „feige Flucht“ in die Ausbildung übernommen?“

Unter anderem 30 Schulen mit rund 60 000 Schülerinnen und Schülern sowie eine Universität betreibt Ihre Kinderhilfe. Bereits kurz nach dem Abzug der NATO-Truppen haben Sie klargestellt, dass Sie in Ihrem Engagement trotz der erneuten Machtübernahme durch die Taliban nicht nachlassen werden, schließlich würden sich viele Befürchtungen als übertrieben herausstellen. Hat sich dieser Optimismus bewahrheitet?

Der von Ihnen erwähnte Schul- und Universitätsbetrieb und die Arbeit in unseren medizinischen Einrichtungen laufen nach kurzer Unterbrechung im August und September völlig ungestört weiter. Auch alle Mädchen können jetzt wieder bis Klasse 12 (Abitur) die Schulen besuchen. Unsere Computer-Ausbildungszentren werden geradezu „überrannt“ von Buben und Mädchen. Dasselbe gilt für die vier Berufsschulen für Schneiderinnen und Photovoltaik-Techniker. Alle Kinder – auch die Mädchen –, alle Lehrer und Lehrerinnen kommen jeden Tag zum Unterricht.

Bereits Ende vergangenen Jahres kritisierten Sie in scharfen Worten, dass „der Westen die Bevölkerung Afghanistans als Geisel nimmt“. Gleichzeitig warnten Sie vor einer humanitären Katastrophe und hunderttausenden verhungernden Kindern. Wie schätzen Sie die jetzige Lage ein und vor allem: Was müsste der Westen nun tun?

Der Großteil der afghanischen Regierungsgelder, circa zehn Milliarden US-Dollar, liegen seit August 2021 auf US-amerikanischen Banken fest. Die US-Regierung gibt diese nicht frei, solange das Taliban-Regime unsere sogenannten westlichen Wertevorstellungen nicht übernimmt. Dies ist einer der Gründe, weshalb der Großteil der Afghanen jetzt keinen Zugang zu Geld hat; die meisten Banken sind geschlossen beziehungsweise zahlen nur einmal wöchentlich geringe Beträge aus. Dies wiederum führt zu einer katastrophalen Arbeitslosigkeit. In Kombination mit zwei Missernten seit 2020 und einem extrem kalten Winter darben jetzt Millionen an Hunger und Kälte. WHO und UNICEF befürchten, dass mehr als zwei Millionen Kinder zu Tode kommen. Daher verteilen wir seit Oktober täglich an mehrere Hundert Familien warme Kleidung, Säuglingsnahrung und Lebensmittelpakete. Die westliche Politik hat sich bislang am Kampf gegen Hunger- und Kältetod kaum engagiert.

Hätte denn die jetzige Situation in Afghanistan verhindert werden können, wären die Truppen der NATO-Mission „Resolute Support“ nicht abgezogen worden?

Wenn man beim Anziehen seines Sonntagshemdes dieses von Anfang an falsch knöpft, wird es auch am Ende nicht passen. Der strategiefreie Rachefeldzug nach 9/11 (Strategie – frei nach Clausewitz – ist die Beschreibung einer alle Lebensbereiche umfassenden Vorgehensweise zur Erreichung vorher genau definierter Ziele) – Präsident Bush nannte ihn gar Kreuzzug – ohne Kulturkompetenz, Sprach- und Ortskenntnisse war von Anfang an eine politische und militärische Todgeburt. Diesem Kreuzzug dann auch noch „u n e i n g e s c h r ä n k t e“ Solidarität zuzusichern, hat auch unsere deutsche Politik am jetzigen Desaster mit schuldig gemacht. Am 16. August haben bei den Taliban und bei allen Dschihadisten weltweit die Champagner-Korken geknallt: „Wir haben mit Allahs Hilfe die NATO, die größte Armee der gottlosen Welt, geschlagen. Der Islam wird siegen.“ Die Erfolge des DAESH (afghanisch für IS) in ihrem innerafghanischen Kampf gegen die Taliban werden wöchentlich größer; schon bald, fürchte ich, werden wir wieder auch in Europa vom IS hören.

Kann ein Land wie Afghanistan mit militärischer Präsenz überhaupt dauerhaft befriedet werden?

Die afghanische Geschichte lehrt: Nein! Nie mit fremden Truppen! Weder im 18. und 19. Jahrhundert durch britische Truppen noch 1979-1989 durch sowjetische Truppen wurde Afghanistan befriedet – im Gegenteil.

Moderne Bildung für Buben und Mädchen, Ausbildung in Berufen, die im Land benötigt werden, Unterstützung bei der Schaffung von fair bezahlten Arbeitsplätzen, Bekämpfung der Opiumproduktion durch technische und finanzielle Hilfe in der Landwirtschaft: Bereits Ende 2020 haben Sie skizziert, wie sich Deutschland mehr engagieren sollte. Sehen Sie dafür bereits Ansätze?

Derzeit leider noch nicht. Die Anstrengungen Deutschlands seit 2002 sind nach dem 16. August völlig zum Erliegen gekommen. Ich hoffe sehr, dies wird sich mit der neuen Regierung in Berlin und einem vernünftigen Engagement auch mit einem Taliban-Regime zum Wohl der 40 Millionen Afghanen ändern. Deutschland hat trotz aller Fehler am Hindukusch immer noch das höchste Ansehen.

Sie haben die „Kinderhilfe Afghanistan“ im Laufe der Jahre zur größten privaten Hilfsorganisation am Hindukusch aufgebaut. Anfang Januar sind Sie 74 Jahre alt geworden. Denken Sie manchmal ans Aufgeben?

Das Wort „Aufgeben“ gibt es weder in der Sprache Paschtu noch in meinem Wortschatz. Mehr und mehr übernehmen meine drei erwachsenen Söhne Teile der Arbeit, auch vor Ort. Sie kennen das Land aus den 80er Jahren als Kinder und waren seit der Gründung der „Kinderhilfe Afghanistan“ mit mir mehrfach vor Ort. Ich halte es mit John Wayne: „Sollte ich tatsächlich mal sterben, dann nicht im Bett, sondern in meinen Stiefeln!“

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