Auch im ZDF-Morgenmagazin äußerte sich der Bundesvorsitzende, Oberst André Wüstner, zu den aktuellen Herausforderungen für die Bundeswehr. Foto: Screenshot

14.06.2025
Von Thorsten Jungholt (Die WELT)

„Vielen in diesem Land ist noch nicht klar, was in den nächsten Jahren auf die Truppe zukommt“

Die Nato-Planungsziele markieren für Deutschlands Streitkräfte eine „neue Ära“, warnt der Bundesvorsitzende Oberst André Wüstner im Interview mit der Tageszeitung „Die WELT“. Die Zeit für die „Operation Aufwuchs“ mit mehr Soldaten und modernen Waffensystemen sei knapp. Er stimmt auf „Wachstumsschmerzen“ ein. Beim NATO-Gipfel am 24. und 25. Juni in Den Haag sollen die neuen Fähigkeitsziele für das Bündnis beschlossen werden. Welche Konsequenzen für Deutschland und die Bundeswehr daraus erwachsen, erklärt Wüstner im folgenden Gespräch mit dem WELT-Journalisten Thorsten Jungholt.

WELT: Auf dem Gipfel in Den Haag Ende Juni wird die Nato als Reaktion auf die russische Bedrohung neue Planungsziele beschließen. Für die Bundeswehr bedeutet das eine massive Aufrüstung: Es braucht mehr Soldaten in neuen Großverbänden, mehr und neue Waffensysteme, mehr Kasernen. Kommt das für Sie überraschend?

André Wüstner: Keinesfalls. Die Nato-Planungsziele sind die logische Konsequenz der aktuellen Bedrohungsanalyse, der sich daraus ergebenden Anpassung der Verteidigungsplanung für Europa und der Tatsache, dass wir künftig auch mit weniger US-Streitkräften in Europa abschreckungsfähig sein müssen. Die Abstimmung dazu lief seit letztem Jahr. Die Größenordnung und die Schwerpunkte wie Aufbau einer Flugabwehr, Stationierung und Entwicklung von Marsch- oder gar Hyperschallflugkörpern, Logistik und kampfkräftige Verbände von der Brigade über die Division bis zur Korpsebene waren den Fachleuten und interessierten Politikern längst bekannt – auch wenn es von vielen verdrängt wurde.

WELT: Worauf kommt es jetzt an?

Wüstner: Spätestens nach dem Nato-Gipfel sollten alle verstanden haben, dass die Bundeswehr nun in allen Dimensionen substanzieller und schneller verteidigungsfähig werden muss – und zwar vollumfänglich. In der letzten Legislaturperiode ging es noch um einzelne Großprojekte auf lange Sicht. In den nächsten vier Jahren müssen endlich Beschaffung im Systemverbund und damit letztlich Effekte sichtbar werden. Alle Maßnahmen müssen ein Hauptziel haben: das schnellstmögliche Erlangen von Kampfkraft bis 2029 und gleichzeitig das Erreichen der zugesagten Planungsziele in den Jahren danach. Das Zauberwort lautet: Adaptionsfähigkeit.

WELT: Wo sehen Sie die größten Lücken?

Wüstner: In der Flugabwehr und bei den Landstreitkräften. Das beginnt bei der Sanität, geht über die ABC-Abwehr und hört bei der Führungsfähigkeit sowie Logistik für militärische Großverbände nicht auf. Wir haben acht nicht vollständig ausgerüstete Brigaden, eine neunte ist im Aufwuchs. Künftig brauchen wir zwölf gefechtsbereite Brigaden plus Divisions- und Korpstruppen. Dazu kommen noch die Kräfte für den Heimatschutz. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich die Bundeswehr fein, aber klein nur auf überschaubare Kontingente für Auslandseinsätze ausgerichtet hat.

Es geht um mehr Masse, Klasse und Modernität für die Landes- und Bündnisverteidigung. Wir brauchen die Schaffung neuer Fähigkeiten mit unbemannten, KI-gestützten und weitreichenden Systemen vor dem Hintergrund von mehr Abstands- und Abschreckungsfähigkeit, aber auch die Wiederbelebung von alten wie der Heeresflugabwehrtruppe. Freuen kann uns das mit Blick auf die Kosten nicht, aber es ist bitter notwendig.

WELT: Ein Nadelöhr sind die Produktionskapazitäten der Industrie. Botschafter Wolfgang Ischinger und Sie selbst hatten bereits Ende 2022 die Forderung nach einer Art Kriegswirtschaft erhoben…

Wüstner: … um damit bewusst zu provozieren und darauf hinzuweisen, dass unsere nationalen sowie europäischen Rüstungskapazitäten bei Weitem nicht ausreichen und schneller als geschehen hätten gesteigert werden müssen. Das betrifft auch Rahmenbedingungen wie beispielsweise die Anpassung des Vergaberechts. Das zu erkennen und entsprechend zu handeln, hat viel zu lange gedauert. Die Industrie ist teilweise immer noch zu langsam, und das darf Politik nicht egal sein. Immerhin soll im Sommer ein weiteres Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht werden – was ich begrüße.

WELT: Haben Sie den Eindruck, dass Regierung und Parlament die Dimension der Aufgabe verstanden haben?

Wüstner: Ich glaube, dass Kanzler und Vizekanzler mittlerweile um die schwierige Lage wissen und verstehen, dass wir für die Operation Aufwuchs nicht wirklich viel Zeit haben. Ja, das ist eine enorme Managementaufgabe für den Verteidigungsminister. Und nein, vielen im Parlament, in diesem Land, vielleicht auch noch nicht allen in der Bundeswehr ist klar, was in den nächsten Jahren auf die Truppe zukommt.
Durch die jüngsten Zusagen an die Nato sind wir auf dem Weg in eine neue Ära der Bundeswehr. Das wird eine brutale Herausforderung, insbesondere was den personellen Aufwuchs und den strukturellen Umbau angeht. Es wird Wachstumsschmerzen geben, von denen ich hoffe, dass sie sich in Grenzen halten. Der Zeitdruck ist enorm.

WELT: Kann die neue Zielgröße von bis zu 260.000 aktiven Soldaten ohne Wehrpflicht erreicht werden? Seit Jahren stagniert die Truppenstärke bei rund 181.000.

Wüstner: Ich habe Zweifel, dass ein auf Freiwilligkeit basierendes Modell auf lange Sicht allein durchschlagenden Erfolg bringt. Es werden jedoch nicht nur Mannschaftssoldaten benötigt; es muss also gelingen, in erheblichem Umfang Menschen aus dem Wehrdienst – egal in welcher Form – als Soldaten auf Zeit oder Berufssoldaten zu binden und regulär wesentlich mehr Personal zu gewinnen. Das geht über Attraktivitätssteigerungen, und da muss mehr bewegt werden als bisher.

WELT: Konkret?

Wüstner: Neben der Besoldung müssen auch das Dienst- und Laufbahnrecht sowie die Versorgung der Soldaten endlich am spezifischen Bedarf der Streitkräfte ausgerichtet werden. Gut, dass der Minister bereits davon sprach. Nun muss sein Haus die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen. Damit hätte Boris Pistorius auch die Chance, auf die aktuelle Kritik des Bundesrechnungshofs mit Blick auf die Unwuchten in der Personalstruktur zu reagieren, Stichwort Kopflastigkeit.

Unser Berufsverband wird sich wie gewohnt konstruktiv einbringen. Das Verteidigungsministerium muss dahin kommen, dass jeder Soldat, jeder Zivilbeschäftigte für seinen jeweiligen Beruf voll überzeugt nach außen wirbt. Davon sind wir aufgrund schwieriger Rahmenbedingungen leider noch zu weit entfernt – unabhängig davon, dass jede und jeder Einzelne zu 100 Prozent seinen jeweiligen Auftrag erfüllt. Die Bundeswehr-Angehörigen leisten nach wie vor Hervorragendes!

WELT: Bis zu 260.000 Soldaten in der stehenden Truppe, dazu dann absehbar 200.000 Reservisten. Wo werden die untergebracht, wer bildet die Rekruten aus?

Wüstner: Das mehr an Infrastruktur muss geschaffen werden, indem viel agiler gearbeitet wird. Es braucht ein anderes Verständnis und Miteinander in allen Verästelungen zwischen dem Verteidigungs- und Finanzministerium sowie den Bundesländern. Andernfalls wird die Regierung mit diesem Vorhaben scheitern. Unabhängig von der Sanierung von Bestandsimmobilien der Bundeswehr müssen wir bereits abgegebene Liegenschaften wieder zurückholen, in Betrieb nehmen und dazu noch im zweistelligen Bereich neue Kasernen bauen! Pläne gibt es im Ministerium, jetzt kann und muss durchgestartet werden. Dafür braucht es schnellstmöglich Entscheidungen.

WELT: Wo kommen die Ausbilder her?

Wüstner: Das wird nicht einfach. Deshalb ist es richtig, dass Boris Pistorius schrittweise aufwachsen lassen möchte. Wenn ich beispielsweise die 5000 zusätzlichen freiwillig Wehrdienstleistenden für dieses Jahr nehme: Bei einer Gruppenstärke von zwölf Soldaten braucht es dafür bereits rund 420 Gruppenführer mehr in der Ausbildung. Die wird man zunächst aus aktuellen Aufträgen herauslösen müssen.

Parallel gilt es, mehr Führungspersonal für die nächsten Jahre zu gewinnen und auszubilden. Zeitgleich muss der Bereich der Reserve strukturiert aufwachsen, sodass die Wehrdienstleistenden anschließend als Reservisten im Heimatschutz oder anderen Verstärkungsstrukturen aufgenommen werden können. All das zeigt, wie komplex die Aufgabe ist. Ich bleibe zuversichtlich, dass es gelingt – weil es gelingen muss.

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