Babyn Yar: Nach der Erschießung von über 33 000 Juden und Jüdinnen am 29. und 30. September 1941 mussten sowjetische Kriegsgefangene die Massengräber zuschütten. Für das Massaker waren maßgeblich die „Einsatzgruppe C“ der SS, die 6. Armee der Wehrmacht und die Polizei-Bataillone 45 und 303 verantwortlich. Das Bild ist Teil einer Serie von 29 Fotos, die der Propagandakompanieoffizier Johannes Karl Härle gemacht hat und die der Öffentlichkeit bis zum Jahr 2000 unbekannt waren. Foto: Wikimedia

13.03.2022
Hans-Peter Bartels und Michael Epkenhans

Warum uns die Ukraine historisch etwas angeht

Die ukrainisch-deutsche Vergangenheit, die zweimalige Besetzung der Ukraine durch deutsche Truppen im 20. Jahrhundert, ist zu wenig präsent in der deutschen Erinnerungskultur. Dabei ist das Wissen darum wichtig, um zu begreifen, warum Deutschland eine historische Verantwortung für die Zukunft der Ukraine hat.

„Man muss sich im Dunkel hüten, in den falschen Zug einzusteigen“, schreibt Alexander Stahlberg in seinen Erinnerungen an den militärischen Widerstand gegen Hitler („Die verdammte Pflicht“, 1987). „Man könnte bei Leningrad aufwachen anstatt in der Ukraine.“ Stahlberg muss nach Winniza, zur Heeresgruppe Süd. Jahre des Wahnsinns, Jahre der Barbarei.

Es mutet erstaunlich an, wie wenig unsere Vergangenheit mit der Ukraine heute in der öffentlichen Diskussion präsent ist. „Die Ukraine ist auf unserer Landkarte der Erinnerung […] viel zu blass, viel zu schemenhaft verzeichnet“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Massenmorde von Babyn Yar 2021 in Kiew. Dabei ist die deutsch-ukrainische Vergangenheit doch Teil so vieler Familiengeschichten.

Großvater, ein Bergmann, Angehöriger des Preußischen Reserveinfanterieregiments Nr. 204, stand, kurzfristig abgezogen von den blutigen Kämpfen um Verdun, im Sommer 1916 in der Schlacht von Kowel, um die Offensive des zaristischen Generals Brussilow aufzuhalten. Der gleiche Großvater, inzwischen kein Bergmann mehr, sondern Polizist, sollte 1942 noch einmal in den Osten, dieses Mal nach Baku, um dort für „Ordnung“ bei der Ausbeutung der Ölfelder zu sorgen. Der Abbruch des Kaukasusfeldzuges bewahrte ihn davor. Gleichwohl, die bereits gepackte grüne Polizeikiste gehörte zu den wenigen Habseligkeiten, die dessen damals 16-jährige Tochter auf einem Handwagen aus dem oberschlesischen Hindenburg in den Westen zog. Als Symbol von verbrecherischem Größenwahn und Niederlage sind Handwagen und Kiste heute im Militärhistorischen Museum in Dresden zu sehen.

Ein Onkel, westfälischer Bauernsohn, erzählte im Kreise der Familie manchmal davon, wie er als einfacher Soldat im Juni 1941 den Bug überschritt und bis 1944 in der Ukraine kämpfte, um Hitlers „Lebensraum“-Feldzug zum Erfolg zu verhelfen. Der Opa, der Onkel, beide sind sie längst verstorben. Ein anderer Onkel, Heini, fiel im Kaukasus. Der Weg dorthin führte durch die Ukraine.

An Zeitzeugen, auch berühmten, mangelte es jahrzehntelang nicht. Franz Josef Strauß erlebte bereits in den ersten Kriegstagen an der Ostfront als junger Leutnant Massaker an der jüdischen Bevölkerung, zunächst bei Lemberg. Beim weiteren Vormarsch war Strauß dann, wie er in seinen posthum veröffentlichten „Erinnerungen“ berichtet, mehrere Tage Augenzeuge des mörderischen Wütens der „Einsatzgruppe D“, die in ukrainischen Wäldern Tausende „zusammengetriebene Juden, kommunistische Funktionäre, unschuldige Menschen“ vor Gruben erschoss, die sie zuvor selbst hatten ausheben müssen.

Auch wenn in Zeiten des Kalten Krieges und danach die persönliche Erinnerung verblasste, so bleibt doch die Verantwortung der Deutschen sowohl für die Unabhängigkeit der Ukraine 1918 als auch für den Vernichtungskrieg gegen die Völker der damaligen Sowjetunion 1941-44. Auch der Zusammenbruch der UdSSR 1991 hat daran nichts geändert. Viele Menschen in Deutschland kennen die Klitschko-Brüder, wissen vielleicht, dass sie aus der Ukraine stammen, der eine jetzt sogar Bürgermeister der umkämpften Stadt Kiew ist. Aber über das Land und seine Geschichte und, vor allem, den deutschen Bezug dazu wissen sie kaum etwas.

„Brotfrieden“ und Operation „Faustschlag“ 1918

Nachdem deutsche Truppen im Sommer 1916 österreichische Stellungen in Galizien und in der Bukowina, den östlichsten Teilen der Habsburgermonarchie, verteidigt hatten, traten sie im Frühjahr 1918 zum Vormarsch nach Osten und Südosten an. Das Zarenreich war infolge der beiden Revolutionen 1917 militärisch und politisch zusammengebrochen. Damit war zugleich das Nationalbewusstsein jener Völker an den Rändern des einstigen Riesenreiches neu geweckt, die im Laufe der Zeit von den Armeen der Zaren erobert und russifiziert worden waren. Neben dem Baltikum, Finnland und den Völkern im Kaukasus galt dies auch für die Ukraine.

Seit Ende 1917 kämpften dort Bolschewisten und Nationalisten um die Macht. Auf deutschen und österreichischen Druck unterzeichneten Vertreter der im Januar 1918 proklamierten Volksrepublik Ukraine am 8. Februar 1918 in Brest-Litowsk einen Separatfrieden mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und Bulgarien.

Dieser Vertrag ist als „Brotfrieden“ in die Geschichte eingegangen. Die Bezeichnung macht deutlich, dass die Mittelmächte hofften, Zugriff auf die großen Getreidevorräte der Region zu bekommen. Millionen Menschen hungerten im Reich und in der k.u.k. Monarchie. Doch es ging nicht allein um Getreide, Eier und Fleisch. Bedeutsam waren auch kriegswichtige Erze und die Kohle des Donezbeckens.

Das zeitgleiche Scheitern der Friedensverhandlungen mit den Bolschewiki (bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk angeführt von Leo Trotzki) war dann Anlass, militärisch im Osten Fakten zu schaffen. Im Zuge der Operation „Faustschlag“, die nicht zuletzt dazu diente, die souverän gewordene Ukrainische Volksrepublik zu stabilisieren, begann noch im Februar 1918 auf breitester Front der Eisenbahnvormarsch deutscher und österreichischer Truppen zwischen Riga und dem Schwarzen Meer. Innerhalb weniger Wochen stand eine Million deutscher und österreichischer Soldaten am Peipussee im Norden, in Minsk, am Don und auf der Krim im Süden. Parallel rückten deutsche und türkische Truppen durch den Kaukasus vor, um die Ölfelder am Kaspischen Meer in die Hand zu bekommen.

Die Verhältnisse in der Ukraine blieben verworren. Es herrschte Bürgerkrieg. Vierzehnmal wechselte in Kiew die Herrschaft zwischen den Deutschen (Feldmarschall Hermann von Eichhorn, ermordet im Juli 1918), den Bolschewiki mit Semjon Budjonnis brandschatzenden Truppen (genial aufgezeichnet von Isaak Babel: „Die Reiterarmee“), den Nationalisten unter Hetman Pawlo Skoropadskyi, General Wrangels Truppen der Konterrevolution (in deren Kiewer Umfeld spielt Michail Bulgakows berühmter Roman „Die weiße Garde“) und der polnischen Armee.

Die mit dem „Brotfrieden“ verbundenen wirtschaftlichen Hoffnungen erfüllten sich nicht. Bereits Ende März notierte Generalleutnant Wilhelm Groener, den die Oberste Heeresleitung nach Osten versetzt hatte, um dort die undankbare Aufgabe der Plünderung des Landes zu übernehmen: „Die Leute in Berlin sehen die Ukraine als Fetttopf an, in den man nur die Finger hineinzustecken brauche, um dran zu lecken. Und von mir glauben sie, ich sei der Zauberer, der aus nichts Getreide und Schweine macht.“

Reichsleitung und OHL verloren alsbald das Interesse an der Ukraine. Dies galt jedoch nicht für die Krim. Zwar sollte nach den Bestimmungen des schließlich noch mit den Bolschewiki unterschriebenen Friedensvertrages die Halbinsel ebenso wie das Donezbecken weiterhin zu Sowjetrussland gehören. Doch Ludendorff und die Oberste Heeresleitung träumten von einem Staatsgebilde „Krim-Taurien“, das sich an eine deutsch-dominierte Ukraine anlehnte. Die in den russisch beherrschten Gebieten – Bessarabien, Cherson, Wolhynien, Wolga, Kaukasus – lebenden Deutschen sollten sich dort als Kolonisten niederlassen.

Der Plan war, mit der Krim ein Sprungbrett für die Beherrschung großer Räume in Zentralasien zu erhalten. So hieß es in den „Maritim-politischen Richtlinien“ von Konteradmiral Walter Freiherr v. Keyserlingk im Juni 1918: „Wird das große Ziel […] weiterverfolgt, nämlich die Offenhaltung deutschen Einflusses über Kaukasien nach Asien hinein auf Indien, dann muss das Schwarze Meer ebenso wie die Fortsetzung davon, das Kaspische Meer, die sichere Brücke von Europa über die Gebiete des Kaukasus nach Asien hin bilden.“ Völkische Expansion und Raub gingen Hand in Hand. Groener erklärte bei der Heeresgruppe Kiew Ende August: „Weshalb wir hier sind, ist ganz klar. Weil wir die Produkte gebrauchen zur Kriegführung. Wir brauchen die Produkte bis an das Kaspische Meer, und wenn es geht, auch die Produkte von Turkestan.“

Deutlicher konnte man die Abwendung von der wilhelminischen „Weltpolitik“ und die Übernahme der Gedanken des englischen Geografen Halford Mackinder kaum formulieren. Eine Kontinentalmacht, so hieß es bei Mackinder, die sich auf Eurasien mit seinen unerschöpflichen Rohstoffen stütze, sei jeder Weltmacht mit ihren verwundbaren Verbindungen überlegen.

Vernichtungskrieg um „Lebensraum“

Fünfzehn Jahre später, am 3. Februar 1933, wenige Tage nach der Machtübergabe, verkündete Adolf Hitler vor führenden Generalen und Admiralen der Reichswehr, dass die Eroberung von „Lebensraum im Osten u[nd] dessen rücksichtslose Germanisierung“ sowie die „Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel“ die wichtigsten Ziele seiner Kanzlerschaft seien. Dieses Programm verwirklichte er in den folgenden Jahren mit diktatorischen Mitteln zunächst im Innern, dann setzte er die Welt in Brand.

Dem Überfall auf Polen und der Besetzung der meisten Staaten in Nord-, West- und Südosteuropa folgte am 22. Juni 1941 mit drei Heeresgruppen Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion, das eigentliche Ziel von Hitlers „Lebensraum“- und Vernichtungs-Ideologie.

Mit 38 Divisionen rückte die Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt entlang einer 800 Kilometer langen Frontlinie in jene Räume ein, in denen am Ende des Ersten Weltkrieges bereits einmal deutsche Soldaten vormarschiert waren: die Weiten der Ukraine. Wie 1918 ging es darum, zum Don vorzustoßen, die Krim zu besetzen und die Brücke zum Kaukasus zu schlagen.

Der Vormarsch erwies sich dieses Mal jedoch als viel schwieriger. Die Rote Armee wehrte sich. 1918 hatte das von Bürgerkriegen zerrissene ehemalige Zarenreich das Feld freiwillig geräumt. Die Zeit, so Lenin, würde schon für die Bolschewiki arbeiten. 1941 hingegen fanden in der Ukraine die heftigsten Kämpfe statt. Unter Inkaufnahme enormer Verluste verzögerte die Rote Armee die Operationen der Deutschen und ihrer Verbündeten in Richtung Moskau wie auch im Süden. Aus dem geplanten „Blitzkrieg“ wurde ein Zermürbungskrieg, den die Wehrmacht letztlich verlor.

Die Vorstöße bis nach Stalingrad, auf die Krim und in den Kaukasus überdehnten die deutschen Möglichkeiten. Seit 1943 ging es, einigen lokalen Erfolgen zum Trotz, überwiegend zurück. Im Frühjahr 1944 hatte die Rote Armee die Wehrmacht im Süden fast auf ihre Ausgangsstellungen zurückgedrängt, im Herbst befand sich die Ukraine wieder vollständig in sowjetischer Hand. Das Land, durch das vier Mal hin und her die Front gerollt war, glich verbrannter Erde.

Dieses Vorgehen entsprach dem vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft entwickelten „Hungerplan“. Danach sollte die Ukraine als eines der besetzten „Hauptüberschussgebiete“ die Ernährung der Bevölkerung im Reich wie auch der Wehrmacht sicherstellen. Nie wieder sollten die Deutschen hungern und damit kriegsmüde wie im Ersten Weltkrieg werden. Der Hungertod von Millionen Einheimischen dagegen (wie auch ihrer unterernährten Soldaten in den deutschen Gefangenenlagern) wurde vorsätzlich in Kauf genommen.

Das Nazi-Regime plünderte jedoch nicht allein die landwirtschaftlichen Vorräte der Ukraine. Genauso wichtig waren die Rohstoffe. Wieder ging es um Erze, etwa das kriegswichtige Mangan von Nikopol und die Eisenerzvorkommen bei Krivoj Rog, sowie um die Kohle im Donbas. Mit dem Raub einher ging die Versklavung großer Teile der Bevölkerung. Schätzungsweise eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer wurden ins Reich verschleppt, um unter furchtbaren Bedingungen in der Industrie und in der Landwirtschaft zu arbeiten.

Wo die Wehrmacht vorrückte, folgte ihr die Vernichtungsmaschine des Nazi-Regimes. Am bekanntesten ist das oben erwähnte Massaker von Babyn Yar bei Kiew, wo über 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder unter Beihilfe der Wehrmacht ermordet wurden. Bei Odessa brachten rumänische Truppen mit deutscher Unterstützung mehr als 25 000 Juden um. Die Systematik und die Eile des Holocaust in der Ukraine zeigt ein Blick auf ausgewählte Städte: Zhitomir im September 1941 3100, Dnipropetrowsk im Oktober 11 000, Rowno im November 15 000, Simferopol im Dezember 12 000, Charkow im Januar 1942 12 000, Luzk im August 14 700, Wladimir Wolynsk im September 13 500.

Der Großteil der jüdischen Bevölkerung in den berühmten „Shteteln“ der Ukraine fiel den „Einsatzgruppen C und D“ zum Opfer. Systematisch durchkämmten sie die kleinen und größeren Landstädte, trieben deren Bewohner vor die Stadt und in nahe liegende Wälder, um sie dort, wie von Strauß und Tausenden anderen deutschen Soldaten beobachtet, zu erschießen.

Bis Ende 1941 ermordeten beide Einsatzgruppen 187 000 Juden. Polizeibataillone, „Gaswagen“ und die Willkür örtlicher Kommandeure erhöhten die Zahl. Juden, Kommunisten, Sinti und Roma, Kriegsgefangene, Partisanen und Geiseln, die diese Mordaktionen überlebt hatten, kamen schließlich in die neu errichteten „Vernichtungslager“, um dort umgebracht zu werden. Nicht vergessen werden sollten auch diejenigen, die aus purer Mordlust umgebracht wurden, weil sie ihre wenigen Vorräte nicht abgeben wollten oder weil sie in den besetzten Städten missliebige Nachbarn waren. Insgesamt wird die Zahl der Opfer auf dem Gebiet der Ukraine heute auf 1,5 bis zwei Millionen Menschen geschätzt. Dass sich auch ukrainische Kollaborateure als Hilfspolizisten an diesen Gräueln beteiligten, relativiert nichts.

Geschichte und Verantwortung

Als sich die Wehrmacht 1944 zurückziehen musste, hinterließ sie ein verwüstetes, in Teilen leeres, aber auch ein gespaltenes Land. Millionen Menschen waren getötet worden oder befanden sich auf der Flucht. Hinzu kam die Aufhetzung von Volksgruppen – Ukrainern, Russen, Polen –, die auch nach dem Ende des Krieges 1945 noch gegeneinander kämpften, wobei Zehntausende zu Tode kamen, für Jahrzehnte in Arbeitslagern verschwanden oder Opfer systematischer Deportationen wurden.

All dies gilt es, sich in Erinnerung zu rufen. Die historische Verantwortung Deutschlands für die Unterstützung der Ukraine auf ihrem steinigen Weg in die westliche Wertegemeinschaft ist groß. Sie ist nicht geringer als gegenüber Polen und den baltischen Staaten, denen wir in den Jahrzehnten seit dem Mauerfall und dem Zerfall der Sowjetunion geholfen haben, ihre Vergangenheit als Opfer totalitärer Machtpolitik aufzuarbeiten und zu überwinden. Auch die Ukraine mit ihren 44 Millionen Menschen ist heute ein Teil Europas. Ob sie frei bleibt, ist ungewiss. Sie sollte ihre Zukunft selbst bestimmen können.

Prof. Dr. Michael Epkenhans war bis 2021 Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.

Dr. Hans-Peter Bartels war Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages bis 2020.

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