Winfried Nachtwei (r.) im Oktober 2008 in Kundus – eine von vielen Afghanistan-Reisen des Politikers. Links im Bild die Bundestagsabgeordneten Anita Schäfer und Henning Otte (beide CDU). Foto picture-alliance/dpa

Winfried Nachtwei (r.) im Oktober 2008 in Kundus – eine von vielen Afghanistan-Reisen des Politikers. Links im Bild die Bundestagsabgeordneten Anita Schäfer und Henning Otte (beide CDU). Foto picture-alliance/dpa

22.12.2020
Von Winfried Nachtwei

Friedenschancen am Rande des Abgrunds

Winfried Nachtwei ist ein ausgewiesener Afghanistan-Kenner – der frühere Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen hat den Einsatz von Anfang an begleitet und reiste mehr als 20 Mal in die Krisenregion. Für unsere Redaktion beschreibt er die damaligen politischen Grundlagen für den Bundeswehr-Einsatz und warnt vor einem entfesselten Bürgerkrieg bei einem verfrühten Abzug.

Solidarität mit den USA war nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 in Bundesregierung und Bundestag ein zentrales Motiv für den folgenden Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. Erst im Nachhinein ging mir auf, dass für die Spitzen der Bundesregierung Bündnisloyalität gegenüber den USA lange ausschlaggebend für die deutsche Einsatzbeteiligung blieb und dass Afghanistan und die tatsächliche Wirksamkeit des Einsatzes nur nachrangig interessierte.

Türöffner für den Afghanistaneinsatz war der Bundestagsbeschluss am 16.11.2001 zur deutschen Beteiligung an der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF). Meine Fraktion und die rot-grüne Koalition schrammten dabei knapp am Bruch vorbei. Ausschlaggebend für die knappe Zustimmung meiner Fraktion waren

  • die völkerrechtliche Legitimation durch die Resolution des UN-Sicherheitsrates vom 12.9., die das Recht auf Selbstverteidigung bekräftigte,
  • die Einsicht, dass ein internationales Terrornetzwerk unberechenbar und heimtückisch die internationale Sicherheit und auch die deutsche Bevölkerung bedrohte und dass der sichere Hafen von internationalen Terrorgruppen in Afghanistan nicht weiter geduldet werden durfte,
  • die mit dem Mandat verbundene Vertrauensfrage des Bundeskanzlers, die von vielen Koalitionsabgeordneten als Erpressung empfunden wurde,
  • schließlich kurzfristig der schnelle Zusammenbruch des Taliban-Regimes.

Solidarität mit den USA hielten wir in der Fraktion für notwendig, allerdings nicht als „uneingeschränkte“ (Schröder). Die Erklärung des Bündnisfalles war zunächst eher plakativ, für uns aber nicht ausschlaggebend. OEF war US-geführt, die Nato kam erst mit Übernahme des ISAF-Kommandos im August 2003 ins Spiel.

Am 22.12.2001 billigte der Bundestag mit großer Mehrheit die Bundeswehrbeteiligung an der ISAF-Schutztruppe für Kabul. Damit wurde die Unterstützung von (Wieder-)Aufbau des von 22 Kriegsjahren zerrütteten Afghanistan und dessen Absicherung für uns und viele weitere Abgeordnete schnell zum primären Motiv des deutschen Afghanistaneinsatzes. Damit war von vorneherein klar, dass es in Afghanistan nicht nur um einen notwendigen Militäreinsatz, sondern auch um ein umfassendes diplomatisches, polizeiliches und entwicklungspolitisches Engagement gehen musste, also umfassende und strukturelle Terrorbekämpfung und –prävention.

In der Einsatzpraxis vor Ort zeigte sich schnell, dass der umfassende Ansatz ressortübergreifend vernetzt werden musste. In den PRTs wurde er institutionalisiert und auf der taktischen Ebene zum Teil auch pragmatisch umgesetzt. Auf politisch-strategischer Ebene blieb aber die Umsetzung des vernetzten Ansatzes weit hinter der Rhetorik vor allem der Verteidigungsminister zurück. Bei Analyse und Lagebild, bei Planung, Vorbereitung, Führung und Auswertung des Einsatzes dominierte weiterhin das Ressortprinzip. Der Ressourcen- und Kräfteeinsatz war höchst unausgewogen. Die diplomatischen und polizeilichen Kräfte waren in den ersten sieben, acht  Jahren quantitativ sehr schwach aufgestellt und mit den enormen Herausforderungen von Aufbauunterstützung im hochkomplexen Afghanistan strukturell überfordert. Verbreitete Realitätsverleugnung und Schönrednerei verhinderten, dass das Bundeswehrkontingent rechtzeitig gegen die wiedererstarkenden Taliban wirken konnte.

Die unzureichende Konsequenz und Kohärenz des deutschen Einsatzes wurde landesweit potenziert durch die enorme Komplexität und Heterogenität des internationalen Afghanistaneinsatzes von bis zu 85 Staaten, 15 großen internationalen Organisationen, 1700 Nichtregierungsorganisationen und drei Militäreinsätzen (ISAF, OEF, CIA).

Bei fast jedem meiner 20 Afghanistanbesuche habe ich Aufbau- und Entwicklungsprojekte besucht. Das Berufsbildungszentrum Takhta Pul bei Mazar, die in allen Provinzen laufenden Kurse „Alphabetisierung und nachholende Grundbildung“, die von NGOs geförderten und in der lokalen Bevölkerung verankerten Schulen und Ausbildungseinrichtungen habe ich als beispielhafte Aufbauprojekte kennengelernt.

In der breiteren deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt sind die unabhängigen Evaluationen, die das deutsche Entwicklungsministerium seit 2005 bis 2013 zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in Nordafghanistan und jüngst zur internationalen EZ in Gesamtafghanistan für 2008 bis 2018 in Auftrag gegeben hat. Die kürzlich veröffentlichte Meta-Review von 148 Evaluationen bewertet die Wirksamkeit der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, die unter schwierigsten Sicherheitsbedingungen schnelle Ergebnisse erzielen und die Köpfe und Herzen der Bevölkerung gewinnen sollte, folgendermaßen:

„Es hat beachtliche Erfolge gegeben – der Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung, Grundbildung, Elektrizität und sauberem Trinkwasser wurde verbessert, rudimentäre staatliche Dienstleistungen geschaffen. Kleine Infrastruktur und Ausbildung haben die Lebensgrundlagen in ländlichen Gemeinden verbessert – doch die meisten der ehrgeizigeren Ziele wurden verfehlt. (…) Die internationale Gemeinschaft hat wiederholt überschätzt, was sie selbst und ihre afghanischen Partner leisten können, um einen raschen sozialen Wandel herbeizuführen. Am besten funktioniert haben bescheidene, lokal eingebettete Projekte mit unmittelbarem, greifbarem Nutzen für die Bevölkerung. Komplexe Projekte, die auf wirtschaftliche Entwicklung, Verhaltensänderungen, den Aufbau institutioneller Kapazitäten in der afghanischen Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit oder Gender abzielten, waren selten erfolgreich.“ (Thomas Feidieker, BMZ)
Für die Zukunft ihres Landes engagierte afghanische Frauen und Männer betonen bei Begegnungen bis heute immer wieder, wie viel sich positiv seit 2001 in Afghanistan geändert habe – trotz Terror, Krieg und Korruption.

Gerade komme ich von der 34. Afghanistan-Tagung in Villigst zurück. Dutzende durch Beruf, Herkunft und Engagement mit Afghanistan verbundene Alte und Jüngere tauschten sich online mit Experten in Kabul, Islamabad, Doha und Washington aus. Gerade hatte in Kabul ein Raketenhagel zehn Menschen getötet und über 50 verletzt.

Einhellig war die Enttäuschung, dass seit Beginn der innerafghanischen Verhandlungen in Doha im September das Gewaltniveau keineswegs gesunken ist. Selbstmordangriffe auf ein Bildungszentrum und die Uni in Kabul forderten 31 beziehungsweise 22 Tote und 95 Verletzte, meist Studierende. Der afghanische Ableger des IS bekannte sich dazu. Die Taliban greifen weiter an, vermehrt in Kabul mit gezielten Mordanschlägen auf Regierungsbeamte, Soldaten und Polizisten. Seit dem Doha-Abkommen im Februar griffen die Taliban landesweit 50 Distriktzentren an. Aus 22 der 27 Distrikte in der Nordostprovinz Badakhshan werden aktuell Sicherheitsbedrohungen gemeldet.

Enge Beobachter der innerafghanischen Verhandlungen in Doha berichteten bei der Tagung, dass die gegnerischen Parteien im Unterschied zu anderen Friedensprozessen respektvoll und ernsthaft miteinander sprechen würden. Die Mediationsunterstützung durch ein Team der Berliner Berghof-Foundation ist sehr erfahren und professionell. Vor allem die Afghanen in der Runde befürchteten bei Machtbeteiligung der Taliban eine massive Einschränkung von Menschen- und Frauenrechten. Zugleich ist klar, dass es zu langwierigen Verhandlungen keine vernünftige Alternative gibt.

Die Weisung des abgewählten US-Präsidenten, die US-Truppen in Afghanistan bis Mitte Januar von 4500 auf 2500 zu reduzieren, schwächt die afghanische Regierung und nutzt den Taliban. Wo die Verbindungen zwischen Taliban und Al-Qaida keineswegs gekappt seien und die innerafghanischen Verhandlungen mit sechs Monaten Verspätung begannen, dürfe der in Doha vereinbarte Abzugstermin Ende April 2021 nicht das letzte Wort sein, so die zugeschalteten Experten. Ein Vollabzug bis April wäre angesichts des Knäuels langjähriger innerafghanischer Konflikte kein Durchbruch zur Gewaltminderung, sondern höchst wahrscheinlich ein Türöffner zu entfesseltem Bürgerkrieg. Schon der voreilige ISAF-Abzug 2014 hatte verheerende, hierzulande verdrängte Folgen: Er kostete einen Anstieg der jährlichen Zivilopferzahlen um 20 Prozent.

Jetzt geht es darum, die noch schwachen Anfänge des Friedensprozesses nach Kräften zu befördern, Afghanistan nicht zurückzustoßen in den seit 42 Jahren andauernden Teufelskreis von Krieg und Terror, und damit all das zunichte zu machen, was seit 2002 eingesetzt und trotz alledem an Teilfortschritten erreicht wurde. Und deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss im 20. Jahr des Afghanistaneinsatzes endlich die Kraft und die Ehrlichkeit aufbringen, diesen teuersten und opferreichsten Einsatz der Bundesrepublik unabhängig zu evaluieren – um bestmöglich daraus für die Zukunft zu lernen.

Vortragsangebot von Winfried Nachtwei: „19 Jahre deutscher Afghanistaneinsatz im vernetzten Ansatz: Erfahrungen, Bilanz, Perspektiven – war alles umsonst?“ (illustriert, auch online)

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