12.05.2025
Frank Jungbluth

Das Riesengebirge ist seine Heimat geblieben

Otto Renner ist 1946 mit seiner Familie aus dem Sudetenland vertrieben worden. Er hat für den Zweiten Weltkrieg bitter bezahlt. Der Stabsfeldwebel a.D., der in Nordhessen eine neue Heimat gefunden hat, ist heute 93 Jahre alt und denkt fast täglich an „Zuhause“ und die Zeit des Kriegsendes vor 80 Jahren.

Der Verlust der Heimat hat mich lange beschäftigt – eigentlich beschäftigt mich das Thema bis heute: Das sagt Stabsfeldwebel a.D. Otto Renner, der seit Jahrzehnten in Fritzlar in Nordhessen lebt. Er hat dort gedient, lebt und wohnt in der bergigen Region, die sehr an sein „Zuhause“ erinnert. Seine Heimat ist Fritzlar aber nicht.

Der 93-Jährige ist seit 64 Jahren Mitglied im Deutschen BundeswehrVerband. Das Ende des Zweiten Weltkrieges hat er 1945 in seiner Heimat erlebt. Das war in Spindlermühle im Riesengebirge. Das Städtchen – vom Krieg nahezu unberührt – ist bis heute ein Urlaubsort, im Sommer für Wanderer, in der kalten Jahreszeit für Wintersportler. Wer heute nach Spindlermühle kommt, das seit 1945 Špundleruv Mlýn heißt, wähnt sich auf einer Zeitreise. Die Architektur erinnert an die Deutschen, die Jahrhunderte hier lebten. Gesprochen wird seit 80 Jahren Tschechisch, aber: nicht nur die Steine sprechen deutsch.

„So war das damals“

Vier Stunden musste der junge Otto Renner über die Berge wandern, um seine Eltern und Geschwister in der Kleinstadt Freiheit zu sehen. Die Kleinstadt liegt im früheren Reichsgau Sudetenland zwischen Riesengebirge und Rehorngebirge. Renner, heute 93 Jahre alt, lebte zu der Zeit bei seinen Großeltern im Örtchen Spindlermühle am Fuße der Schneekoppe. „So war das damals“, erinnert sich der Stabsfeldwebel a.D. Die Mutter hatte noch sieben Kinder bekommen, also wuchs der junge Otto bei den Großeltern an der Elbe auf. „Die hatten keinen Jungen, also waren sie froh, dass ich da war“, sagt er.

Der Zweite Weltkrieg endete für den damals knapp 14-Jährigen einige Wochen vor der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945. „Im April kamen die Russen übers Gebirge“, weiß Otto Renner noch bis heute. Es begannen Wochen und Monate der Angst und Repression. „Es wurde überall geschossen, Frauen vergewaltigt. Dann kamen die Tschechen und die wilden Vertreibungen fingen an.“ Deutsche aus Spindlermühle und der gesamten Region wurden an die Grenze deportiert. Mitglieder der NSDAP und andere Nazi-Funktionäre, an die 30 sollen es gewesen sein, wurden erschossen. „Es war ein blutiger Sommer im Jahr 1945“, erinnert sich Otto Renner an die schwerste Zeit seiner frühen Jugend.

Familie wurde zerissen

„Die Opfer der wilden Vertreibungen übernachteten in Scheunen und Kirchen und versorgten sich mit dem Nötigsten“, sagt Otto Renner. Ein knappes Jahr später musste auch Otto Renner mit seinen Großeltern das Haus der Familie verlassen. Die Familie wurde zerrissen, die Heimat war verloren. „Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, aber ich habe meine Eltern und meine Geschwister erst Jahre später wiedergesehen. Ich konnte auch nicht viele Gedanken daran verschwenden, die Not war zu groß und die Aufgabe, regelmäßig etwas zu Essen zu bekommen und sich ein neues Leben aufzubauen, noch größer.“

Mit wenig Hab und Gut wurden sie im nun tschechischen Riesengebirge in Eisenbahn-Waggons verfrachtet und kamen nach einigen Tagen Fahrt in Hof in Oberfranken an. Das Rote Kreuz versorgte die Vertriebenen, sie wurden entseucht und mussten schließlich bis Aschaffenburg weiter, in Hof konnte man niemanden mehr aufnehmen, die Stadt war mit Flüchtlingen und Vertriebenen überfüllt. Die Renners kamen schließlich nach Nordhessen in die Nähe von Frankenberg/Eder.

„Alles war zerstört und auch die Menschen dort litten Hunger."

Dort hatten jetzt die Amerikaner das Sagen, die Region gehörte zu ihrer Besatzungszone. „Alles war zerstört und auch die Menschen dort litten Hunger. Ich habe meine Familie mit Tauschware vom Schwarzmarkt versorgt, dann bin ich auf ein Gut gegangen und konnte auf einem Gutshof in der Nähe von Hofgeismar die Landwirtschaft lernen. Geld gab es dafür nicht, entlohnt wurde ich mit ein bisschen Wurst, Brot und Butter. Das Gute war, dass ich dort meine spätere Ehefrau kennengelernt habe. Erst mit der Währungsreform von 1948 änderte sich auch die wirtschaftliche Lage“, sagt Otto Renner.

Renners Eltern und die sieben Geschwister kamen nach der Vertreibung in der damaligen sowjetischen Besatzungszone an. Dort blieben sie, bis sich herumgesprochen hatte, dass die DDR die Grenzen abriegeln will. Bis dahin war der Weg über die „grüne Grenze“ zwar gefährlich, aber möglich. Während des Baus der Berliner Mauer am 13. August 1961 wurde auch die 1378 Kilometer lange Staatsgrenze „gesichert“, wie es im Jargon der kommunistischen Herrscher jenseits der Elbe hieß. Vom Dreiländereck Bayern, Sachsen, Tschechoslowakei im Süden bis hoch in die Lübecker Bucht an die Halbinsel Priwall reichte der Eiserne Vorhang. Er war mit Minengürteln und Selbstschussanlagen, mit schwer bewaffneten Grenztruppen und Schäferhunden gesichert.

Otto Renners Familie nutzte eine der letzten Gelegenheiten zur Flucht und gelangte nach West-Berlin, von dort wurden seine Eltern und Geschwister in die Bundesrepublik ausgeflogen und kamen nach Fritzlar in Hessen. Renner: „Da wurde es sehr eng, wir waren die erste Zeit gemeinsam in einer kleinen Wohnung.“ Der junge Sudetendeutsche arbeitete weiter auf dem Gutshof, bis ein Zufall ihn in eine militärische Laufbahn brachte. „Es war 1953 und in der Nähe des Hofes übte der Bundesgrenzschutz. Ich ging zu den Männern und fragte, wie man zu der Truppe kommt“, erzählt er.

Einer von 10.000 Beamten des Grenzschutzes

Er möge nach Hann. Münden in die Kurhessenkaserne fahren, sagte man ihm. Also radelte Otto Renner im Juli 1953 die 20 Kilometer in die Garnisonsstadt und sprach mit dem zuständigen BGS-Major über eine Verpflichtung bei den Grenzschützern. Aber es gab ein kleines Problem: Renner war seit zwei Monaten 21 Jahre jung, eigentlich über die Altersgrenze für Neueinstellungen hinaus. „Aber der Major hat das geregelt.“ So rückte er am 2. November 1953 beim BGS ein, diente nach der sechs Monate dauernden Grundausbildung an der Werra, die damals Staatsgrenze zwischen Bundesrepublik und DDR war.

Am 1. Juli 1956 schließlich war Renner einer von 10.000 Beamten des Grenzschutzes, die in die Bundeswehr übernommen wurden. Als junger Unteroffizier verdiente er dort 342 Mark und 43 Pfennige brutto. Ausgezahlt wurden dem jungen Familienvater 340 Mark und 93 Pfennig – Lohn- und Kirchensteuer betrugen eine Mark und 50 Pfennig. Die Renners bekommen vier Kinder, einen Jungen und drei Mädchen. Das war in den 50er- und 60er-Jahren „normal“. „Alle sind etwas geworden“, sagt der Vater stolz. Otto Renner tritt 1961 in den BundeswehrVerband ein, engagiert sich von Anfang an und war viele Jahre lang Vorsitzender der Truppenkameradschaft Grenadierbataillon 32.

Bis heute in der ERH aktiv

Er wird Fahrlehrer in seiner Einheit, mit dem Ehrenkreuz in Silber ausgezeichnet und 1986 im Rang eines Stabsfeldwebels pensioniert. „Ich bin seit 39 Jahren im Ruhestand“, lacht er. Bis heute wirkt er in seiner Kameradschaft Ehemaliger Reservisten und Hinterbliebene des DBwV als Beisitzer im Vorstand mit, seine CDU-Ortsunion hat ihn vor Jahren für seine Mitarbeit geehrt. „Noch etwas zu machen, so gut es geht, das hält mich frisch.“ Er lebt nach dem Tod seiner Frau Elli vor einem Jahr allein, die Kinder sehen regelmäßig nach ihm. „Familie ist wichtig und auch Heimat“, sagt er.

In die alte Heimat im Riesengebirge, seine Vergangenheit, ist Otto Renner einige Zeit nach dem Ende des Krieges regelmäßig gefahren. Bis heute bekommt er Nachrichten von „Zuhause“ auf sein Smartphone. Er hat mitgeholfen, den alten deutschen Friedhof wieder herzurichten, um die Erinnerung zu bewahren. Er hütet dutzende Fotos aus seiner Kindheit und von seinen Besuchen in Spindlermühle. Auf einem Bild ist er als Säugling auf dem Arm seines Vaters zu sehen. Es ist bei der Hochzeit der Eltern im Sudetenland aufgenommen worden. Es bleibt für immer in seinem Herzen und seinem Sinn.

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