Vom 28. bis 30 Juni tagten die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitglieder in Brüssel. Foto: NATO

03.07.2022
Von Frank Schauka, Frank Jungbluth und Yann Bombeke

Ein historischer Gipfel, der die Rolle Deutschlands neu beschreibt

Beim Treffen der NATO-Mitgliedsstaaten ist in der vergangenen Woche klar geworden, dass das Bündnis fest und unbezwingbar zusammensteht. 1955 trat die Bundesrepublik der NATO bei. Jetzt kommt der Kalte Krieg 2.0.

Der NATO-Gipfel von Madrid ist „historisch“. Darin waren sich alle teilnehmenden Staats- und Regierungschefs einig. Historisch bedeutet in diesem Fall dies: Mehr als 300.000 NATO-Kräfte sollen künftig schnell einsatzfähig sein – die bisherige NRF-Eingreiftruppe besteht hingegen nur aus etwa 40.000 Soldatinnen und Soldaten, das ist lediglich ein Siebtel. Manche Einheiten müssten künftig innerhalb von höchstens 10 Tagen verlegebereit sein, andere in 30 oder 50 Tagen, heißt es.

„Sie werden in ihren eigenen Ländern stationiert, aber schon bestimmten Staaten und Gebieten zugewiesen und verantwortlich sein für die Verteidigung dieser Gebiete“, erläuterte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das in Madrid beschlossene neue Streitkräfte-Modell. Schwere Waffen und Gerät sollen allerdings bereits in den Einsatzgebieten vorgehalten werden. „Wir haben schon angekündigt, dass wir bereit sind, eine Division zu stellen, sprich 15.000 Soldatinnen und Soldaten, und dazu natürlich auch entsprechend das Material“, sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht.

Putin wollte die Finnlandisierung – es kommt die Natoisierung Europas

An der Ostflanke sollen nach dem in Madrid beschlossenen Konzept die existierenden multinationalen Nato-Gefechtsverbände auf Brigade-Niveau ausgebaut werden. Derzeit umfasst beispielsweise die EFP-Battlegroup in Litauen 1600 Soldaten. Eine Brigade besteht in der Regel aus etwa 3000 bis 5000 Soldaten. Deutschland hat bereits angekündigt, dass es die Kampftruppen-Brigade in Litauen weiterhin führen will.

US-Präsident Joe Biden übersetzte das Wort „historisch“ so: „Putin wollte die Finnlandisierung Europas. Er wird die Natoisierung Europas bekommen.“

Tatsächlich haben – in einem historischen Akt – Finnland und Schweden ihre traditionelle Neutralität aufgegeben, um sich dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis gegen die von Russland ausgehende Bedrohung anzuschließen. Dem Aufnahmeprozess der beiden skandinavischen Länder in die NATO steht nun, aller Voraussicht nach, nichts mehr entgegen, da sich die Türkei im letzten Moment als konsensbereit erwiesen hat.

 

DBwV-Vorsitzender Wüstner: „Kalter Krieg 2.0“

Neben Russland, das „eine direkte Bedrohung unserer Sicherheit“ darstelle, sei auch China eine Herausforderung für die Werte, Interessen und die Sicherheit der aktuell 30 NATO-Bündnispartner, umriss Stoltenberg die geostrategische Lage.

Was der NATO-Generalsekretär umschrieb, brachte der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbands, Oberst André Wüstner, mit einer griffigen Formel auf den Punkt. Wir seien „eigentlich in Richtung Kalter Krieg 2.0“, sagte Wüstner im ZDF-Morgenmagazin. „Was wir da erleben, ist tatsächlich ein Paradigmenwechsel, ein Zurück zur alten Raumverantwortung, also vergleichbar zu der Zeit vor 1990.“

In dieser Lage, so Wüstner, reichten die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr nicht aus. 200 Milliarden Euro benötige die Truppe, stellte der DBwV-Vorsitzende klar. Und: Die Bundeswehr müsse sich schnell auf die neue Lage einstellen, mahnte Wüstner, mit Blick in die Zukunft. „Es geht jetzt darum, nicht mehr zurückzuschauen, sondern zu gestalten.“

Dies gilt auch für ein Thema, das längst begraben zu sein schien: die Wehrpflicht. Angesichts der realen Bedrohungslage ist jedoch auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die 2011 ausgesetzt wurde, nicht mehr tabu. Oberst Wüstner: „Aktueller Stand sage ich, nein. Aber gelingt es jetzt nicht in dieser Legislaturperiode, die Bundeswehr so attraktiv zu machen, dass wir das ausreichende Personal gewinnen, dann werden wir sicher auch wieder über die Wehrpflicht sprechen müssen.“

Die Verteidigungspolitik steht nach Einschätzung des DBwV-Bundesvorsitzenden vor einer „Riesen-Management-Aufgabe“, und das „nicht nur im Bereich Material, es ist auch eine personelle Herausforderung“, betonte Wüstner. Nun müsse nachgeholt werden, was seit der Annexion der Krim durch Russland 2014 als Paradigmenwechsel erkennbar war und in zahlreichen Dokumenten tatsächlich auch beschrieben wurde.

Die spätestens seitdem notwendige Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung sei als strukturelle Anpassung an die veränderte Lage nicht umgesetzt worden. „Alles, was wir jetzt liefern müssen, war in den letzten Jahren politisch nicht mehr gewünscht“, sagt der Bundesvorsitzende. Die Kaltstartfähigkeit wiederherzustellen, zu organisieren, wie man kämpft, all das seien große Herausforderungen, die man in den nächsten Jahren angehen müsse. Denn gegenüber einem aggressiven Staat wie Russland unter Präsident Putin gebe er nur eine mögliche Grundlage für politischen Dialog: „Glaubhafte militärische Abschreckung.“

Was Außenministerin Annalena Baerbock dem Fernsehsender „Welt“ sagte, war sicherlich nicht als Bestätigung für Wüstners Kritik an mangelndem Weitblick bei politischer Entscheidungsfindung gedacht – doch es klang so. „Wir wollten in Frieden weiter mit Russland leben. Es war nie Ziel der Nato, in Konfrontation mit Russland zu gehen“, sagte Baerbock. „Wir haben alles dafür getan, weiterhin in Frieden zu leben, deswegen haben wir ja in den letzten Jahren nicht so massiv aufgerüstet.“ Bereits im Weißbuch 2016 wurden solche Wunschvorstellungen als Irrtum entlarvt.

Hauptquartier des 5. US-Korps wird in Polen eingerichtet

Jetzt, in Madrid, sagte US-Präsident Biden: „Gemeinsam mit unseren Verbündeten werden wir dafür sorgen, dass die NATO in der Lage ist, Bedrohungen aus allen Richtungen und in allen Bereichen – zu Lande, in der Luft und auf See – zu begegnen.“

In Polen, so Biden, werde ein Hauptquartier des 5. US-Korps eingerichtet. In den baltischen Staaten würden die im Rotationsprinzip eingesetzten Truppen verstärkt. Zudem werden US-Angaben zufolge zwei zusätzliche Geschwader mit F-35-Kampfjets nach Großbritannien entsandt. In Deutschland und Italien sollen zusätzliche Kräfte zur Luftverteidigung stationiert werden. In Spanien wird die Zahl der US-Zerstörer von vier auf sechs erhöht.

„Heute ist eine Gelegenheit zu zeigen, dass die Nato zurück ist“, sagte der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Der britische Premier Boris Johnson äußerte sich ähnlich: „Falls Wladimir Putin gehofft hat, als Resultat seiner unprovozierten, illegalen Invasion in die Ukraine weniger NATO an seiner westlichen Front zu bekommen, lag er komplett falsch. Er bekommt mehr NATO.“

Kanzler Scholz stellte der Ukraine weitere Waffenlieferungen in Aussicht. Neben der humanitären und finanziellen Hilfe werde man auch „Waffen zur Verfügung stellen, die die Ukraine dringend braucht“, sagte er. „Die Botschaft ist: Das werden wir so lange fortsetzen und auch so intensiv fortsetzen, wie es notwendig ist, damit die Ukraine sich verteidigen kann.“ Scholz lobte die Einigung über eine Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO. Das sei „etwas, das uns sehr, sehr wichtig ist“, sagte Scholz.

Am letzten Tag des Gipfels fiel noch eine weitere wichtige Entscheidung: Lange von Generalsekretär Stoltenberg gefordert, gibt es nun mehr Geld für die Gemeinschaftsausgaben des Bündnisses. Bis Ende 2030 wollen die Mitglieder mehr als 20 Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen.

Mit den zusätzlichen Mitteln soll es möglich werden, mehr Geld in die Verlegung von Ausrüstung an die Ostflanke sowie in militärische Infrastruktur zu investieren. Zudem soll es zum Beispiel auch mehr Mittel für Übungen und Cybersicherheit sowie die Förderung von Partnerschaften mit befreundeten Drittstaaten geben.

Den Angaben zufolge soll der zivile und der militärische Haushalt von 2023 an jährlich um je 10 Prozent erhöht werden, der für das Sicherheits- und Investitionsprogramm NSIP sogar um 25 Prozent. Für die Periode von 2023 bis 2030 würden Nato-Berechnungen zufolge dann knapp 45 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Ohne die Erhöhung wären es nur um die 20 Milliarden Euro gewesen.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ist zuversichtlich, dass die Bundeswehr die NATO-Verpflichtungen einhalten kann. Im ARD-Mittagsmagazin sagte sie, dass in den vergangenen Jahren zu viel verschoben und eingespart worden sei. „Damit muss Schluss sein, wenn wir ein verlässlicher Partner in der NATO bleiben wollen und das werden wir sein. Lambrecht betonte: „Alles, was wir versprechen, muss dann auch umsetzbar sein.“ Aktuell sei es die Ausrüstung, bei der es hakt. „Das ist ganz schwierig gewesen, beispielsweise bei der Verstärkung der Truppen in Litauen, als es zu diesem brutalen Angriffskrieg kam.“

Das deutsche Kontingent in Litauen hat der Stellvertreter des Bundesvorsitzenden, Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, im April besucht. Er schätzt die Situation wie folgt ein: „Die Bedrohungslage in Litauen ist in den letzten Wochen nicht geringer geworden. Unsere Soldatinnen und Soldaten dort sind gut vorbereitet und die litauischen und anderen Bündnispartner haben deutlich gemacht, wie sehr sie die Präsenz unserer Streitkräfte schätzen. Die Grundlagen für die angekündigten Ausbau der Kooperation sind also mehr als geschaffen.“

Durch einen regelmäßigen Austausch mit Kameradinnen und Kameraden im Verteidigungsministerium oder im Einsatzführungskommando habe sich Bohnert schon über die deutsche Verstärkung an der Ostflanke informieren können. „Dass nun die bisherigen NATO Response Forces im Sinne des New Forces Model ausgeweitet und die Einsatzbereitschaft erhöht wird, ist sicherlich eine logische, weitere Konsequenz aus der derzeitig angespannten Lage gegenüber Russland“, sagte das Bundesvorstandsmitglied. Und: „ Die Umsetzung und die Rahmenbedingungen müssen für alle betroffenen Soldatinnen und Soldaten angemessen ausgestaltet sein – als Beispiele nenne ich hier Betreuung und Fürsorge sowie den Fokus auf Ausstattung, Ausbildung und Übung.“

In der Norderweiterung des Bündnisses sieht Bohnert eine Bereicherung und einen logischen Schritt. „Bei Aufenthalten an den drei baltischen Militärakademien konnte ich mich davon überzeugen, wie gut die Zusammenarbeit gerade zwischen den baltischen sowie finnischen und schwedischen Streitkräften schon jetzt funktioniert. Auch über unseren europäischen Verband, EUROMIL, haben wir bereits einen sehr langen Kontakt und ständigen Austausch, insbesondere zu den schwedischen Kameraden.“

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