Deutsche Soldaten im Einsatz in Afghanistan: Die Geschichte der "Deutschen Krieger" vom Kaiserreich bis heute beschreibt der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel in seinem neuen Werk. Eine Geschichte von einem hohen Stellenwert des Militärs in der Gesellschaft vor 150 Jahren, das einem freundlichen Desinteresse heutzutage gewichen ist. Foto: Bundeswehr

Deutsche Soldaten im Einsatz in Afghanistan: Die Geschichte der "Deutschen Krieger" vom Kaiserreich bis heute beschreibt der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel in seinem neuen Werk. Eine Geschichte von einem hohen Stellenwert des Militärs in der Gesellschaft vor 150 Jahren, das einem freundlichen Desinteresse heutzutage gewichen ist. Foto: Bundeswehr

04.11.2020
Von Oliver Krause

Interview mit Sönke Neitzel: „Eine echte Strategie gibt es nicht”

In diesen Tagen wird die Bundeswehr 65 Jahre alt. Da passt es, dass Professor Sönke Neitzel von der Universität Potsdam mit seinem neuen Buch „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“ ein ebenso pointiertes wie faktenreiches 800-Seiten starkes Erklärstück zum deutschen Militär vorgelegt hat. Insbesondere seine Thesen zur jüngsten Geschichte der Bundeswehr werden für Diskussionen sorgen. Neitzel beschreibt, warum unsere Republik mit den Streitkräften hadert und fordert mehr Konsequenz. Die Redaktion unseres Verbandsmagazins „Die Bundeswehr“ hat mit dem bekannten Militärhistoriker gesprochen.

Die Bundeswehr: Ist das Kaiserreich aufgrund des „preußischen Militarismus“ in den Ersten Weltkrieg geschlafwandelt oder gab es andere Gründe?

Prof. Sönke Neitzel: Gewiss gab es einen Militarismus im deutschen Kaiserreich, aber der war nicht das Kernproblem. Problematisch war, wenn man so will, die Politik. Der Reichskanzler war der entscheidende Mann und er wagte im Juli 1914 „den Sprung ins Dunkle“ – nicht der Generalstabschef oder der Kriegsminister. Das Kaiserreich ist in den Ersten Weltkrieg geschlittert, weil die Politik auf eine militärische Logik gesetzt hatte, was sie nicht gemusst hätte.

Wenn man das Buch liest, bekommt man den Eindruck, die Armee des Kaiserreichs war damals eine Armee wie jede andere auch.

Die kaiserliche Armee war eine Armee ihrer Zeit. Dafür stehen Paraden, Drill, eine Überdimensionierung der Kavallerie, die Kultur der Regimenter, der Garnisonsstädte, überhaupt die hohe soziale Stellung des Militärs, auch die Probleme bei der Ausrichtung auf den realen Krieg. Die Armee des Kaiserreichs ist wie alle anderen daran gescheitert, sich wirklich auf den Massenkrieg vorzubereiten, deshalb kam es auch zu den enormen Verlusten im Ersten Weltkrieg, gerade 1914.

Trotzdem war sie eine lernende Organisation, dafür steht beispielsweise die Felddienstordnung von 1908. Eine andere Frage ist freilich, bis zu welchem Grad die „Weisungslage“ in der Truppe ankam. Aber das Kaiserreich ist 1914 nicht mehr in bunten Uniformen ins Feld gezogen, wie beispielsweise die Franzosen. Sie war eben auch eine moderne Armee, das vergessen manche, wenn wir die Pickelhaube sehen und den Hauptmann von Köpenick rezitieren.

Auch im Falle der Weimarer Republik wird dem Militär eine Mitschuld gegeben, dass die erste Demokratie gescheitert ist und die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Hält das einer historischen Überprüfung stand?

Weimar ist an vielen Dingen gescheitert – der Weltwirtschaftskrise, der Verfassung, dem Reichspräsidenten, vor allem aber den Wählern, die die Radikalen links und rechts gestärkt haben, – aber gewiss nicht an der Reichswehr. Sicherlich war sie keine republikanische Vorzeigearmee, sie war aber kein „Staat im Staate“. Weite Teile der Bevölkerung bis hin zu Reichspräsident Paul von Hindenburg waren keine überzeugten Demokraten. Es gab bis in die SPD hinein einen breiten Wehrkonsens, der geheime Rüstungsprogramme einschloss. Der Narrativ von der Reichswehr als „Staat im Staate“ ist ein Gründungsmythos der Bundeswehr. Die junge Armee musste sich nach der totalen Niederlage 1945 abgrenzen – und malte die Reichswehr schwärzer als sie war, um selbst heller zu erscheinen. Das ist auch der Grund, warum dieser Begriff noch heute unnötigerweise im Traditionserlass steht.

Die Wiederbewaffnung war nach der totalen Niederlage des Zweiten Weltkriegs hochumstritten. Warum ging Bundeskanzler Konrad Adenauer in den Konflikt mit weiten Teilen der Bevölkerung?

Jenseits einer sicherheitspolitischen Bedrohung, Stichwort: Koreakrieg, war Adenauer daran interessiert, die Souveränität zurückzuerlangen. Ein deutscher Verteidigungsbeitrag hatte auf westlicher Seite Gewicht. Der Deal war – vereinfacht ausgedrückt: Zwölf Divisionen und 500.000 Mann einsatzbereit in drei Jahren im Tausch für eine Teilsouveränität. Nach dem westdeutschen Nato-Beitritt und den Deutschlandverträgen 1955 hat Adenauer dann auch massiv Druck ausgeübt, den deutschen Teil des Deals auch einzuhalten. Außenpolitisches Gewicht hatte die Armee aber nur, wenn sie zumindest auf dem Papier fertig aufgestellt war. Für die Binnenstrukturen der Armee war dieser schnelle Aufbau natürlich fatal.

In den Augen der Nato wie des Warschauer Paktes war die Bundeswehr eine schlagkräftige Armee. Sie weisen aber nach, dass die Selbstwahrnehmung sehr viel negativer war.

Ja, das ist interessant. Für das Buch konnten erstmals alle Zustandsberichte der Bundeswehr bis 1988 offengelegt werden. Dort ist zu lesen, dass die Bundeswehr anders als in den 1990er Jahren zum Teil brutal ehrlich in ihren Zustandsmeldungen war. Die Inspekteure der Teilstreitkräfte nahmen kein Blatt vor den Mund, meldeten 1969 beispielsweise, dass sie nur drei Tage würden kämpfen können. Die Generalinspekteure haben diese harschen Urteile dann allerdings abgeschwächt.

Nochmal: wir haben hier ein Dreiecksverhältnis. Die Bundeswehr hatte im Kalten Krieg außenpolitisches Gewicht, weil sie militärisch einen bestimmten Leistungsstand halten konnte. Das war innenpolitisch nach den historischen Erfahrungen mit Krieg und Genozid nicht einfach; die Bundeswehr wurde immer stärker zu einem „innenpolitischen Projekt“. Heute wird sie kaum noch als „militärisches Projekt“ gedacht. Die Regierungskommunikation konzentriert sich darauf, die Bundeswehr mit der Gesellschaft zu versöhnen, nicht ihre militärischen Aufgaben zu erklären.

Mit dem Ende des Kalten Krieges wird dann die Friedensdividende eingefahren. Der Afghanistan-Einsatz nach dem 11. September 2001 ändert alles. Plötzlich steht die Bundeswehr im Gefecht. Die Bundeswehr sei erwachsen geworden, schreiben Sie. Trifft das auch auf Politik und Gesellschaft zu? Mit Blick auf den aktuellen Mali-Einsatz schreiben Sie, dass sich Deutschland wieder an der Quadratur des Kreises versucht.

In Deutschland ist die Frage unbeantwortet, wozu wir Streitkräfte brauchen. Die Politik wurschtelt sich zwischen außen- und innenpolitischen Zwängen durch, zwischen „nie wieder“ und „nie wieder allein“. Dafür gibt es Gründe. In der Praxis engagiert sich Deutschland dann ein bisschen in Mali, weil die Franzosen uns gefragt haben oder macht in Syrien Fotos. Eine echte Strategie gibt es aber nicht. Und wie einst in Afghanistan soll die Bundeswehr bloß nicht kämpfen, um eine innenpolitische Kontroverse zu vermeiden. Aus demselben Grund dürfen die deutschen Ausbilder die malischen Soldaten oder die kurdischen Peschmerga auch nicht in den Einsatz begleiten.

Unter Einsätzen, die schlecht begründet sind, leidet die vertikale Kohäsion massiv. Die letzten 20 Jahre waren für das Vertrauen in die politische und militärische Führung verheerend. Zwar hat sich aus meiner Sicht die Kommunikation unter Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und General Eberhard Zorn verbessert, allein das Grundproblem bleibt: Warum sind wir in Mali? Warum fahren wir vor der Küste des Libanon auf und ab? Macht das alles Sinn? Das Konzept der Inneren Führung wird ad absurdum geführt, wenn ein Dienen aus Einsicht nur schwer möglich ist.

Trotz aller Bekenntnisse zur Trendwende Material behaupte ich zugespitzt, dass es vielen Politikern letztlich gleichgültig ist, wenn der Tiger nicht fliegt und der Puma nicht schießt. Der Konsens ist doch, diese Waffensysteme sowieso niemals in großem Stil einzusetzen. Warum geben wir dann aber 45,2 Milliarden Euro für Verteidigung aus? Da wäre es konsequenter zu sagen, mit Blick auf seine Geschichte führt Deutschland keine Kampfeinsätze und konzentriert sich auf Sanität, Logistik und Cyberabwehr.

Hartes Urteil. Ein hartes Urteil ist auch folgender Befund: „Niemals in der deutschen Militärgeschichte hat die Generalität den Zerfall der Kampfkraft so schweigend zur Kenntnis genommen wie in den letzten 20 Jahren.“

Ich möchte nicht in ein „General-bashing“ verfallen. Noch wissen wir nicht, was damals die Generalinspekteure mit den Ministern und Ministerinnen besprochen haben und kennen die Gespräche im militärischen Führungsrat nicht. Vielleicht werden wir, wenn die Archive eines Tages geöffnet werden, Stapel von geharnischten Protesten oder Rücktrittsgesuche finden. Ich kann mir das aber nicht vorstellen. Ich glaube schon, dass es intern Kritik gegeben hat, aber sehr verhalten.

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