Ein ukrainischer Soldat vor einem zerstörten russischen Schützenpanzer: Der Krieg hat auf beiden Seiten hohe Verluste gefordert. Foto: Verteidigungsministerium der Ukraine

24.08.2022
Von Yann Bombeke/mit Material von dpa

Seit einem halben Jahr wehrt sich die Ukraine gegen die russischen Angreifer

Mit einer großen Militärparade in den Straßen von Kiew feierte die Ukraine im vergangenen Jahr ihren Nationalfeiertag – 30 Jahre zuvor, am 24. August 1991, hatte das Land seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt. In diesem Jahr ist alles anders: Am 24. August befindet sich die Ukraine seit genau sechs Monaten im Krieg, am 24. Februar fiel Russland in das Land ein. Nach feiern ist wohl am diesjährigen Nationalfeiertag niemandem zumute – auch wenn die Ukraine ihre Unabhängigkeit bewahren konnte, wovon in den in den ersten Tagen der Invasion nicht unbedingt auszugehen war.

Auch an diesem Unabhängigkeitstag ist eine Militärparade auf den großen Boulevards im Zentrum Kiews zu sehen, auch wenn diese etwas statisch ausfällt. Dutzende Wracks russischer Militärfahrzeuge sind dort aufgereiht, vom Lastkraftwagen bis zur schweren Panzerhaubitze. Die rostigen, zum Teil ausgebrannten Haufen von Metall sind zum Symbol des russischen Scheiterns und des ukrainischen Widerstandswillens geworden. Die Ausrüstung der glorreichen russischen Armee? Hier in Kiew ist sie bloß noch Altmetall, „entmilitarisiert“, wie die Ukrainer sagen in Anspielung auf die Bestrebungen Russlands, den südlichen Nachbarn Ukraine zu „entnazifizieren“ und zu „entmilitarisieren“.

Dass die Ukraine ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Aggression noch Widerstand leisten, ja, sogar noch als eigenständiger Staat existieren würde, daran haben vor wenigen Monaten wohl viele Menschen gezweifelt. Innerhalb weniger Tage sollte die Ukraine überrannt, die Hauptstadt Kiew unter russischer Kontrolle genommen, die Regierung gestürzt werden. Nach ersten massiven Bombardements aus der Luft wollten russische Luftlandeeinheiten am Morgen des 24. Februar den Flughafen von Hostomel nördlich von Kiew einnehmen – ein Brückenkopf für die weiteren Operationen in Richtung der Hauptstadt. Bereits diese Operation schief: Zwar gelang es den russischen Fallschirmjägern, den Flughafen zunächst einzunehmen, doch schon am Abend eroberten ihn ukrainische Kräfte zurück. Am 27. Februar griffen die Russen erneut an, konnten den Flugplatz zwar sichern, doch die Schäden waren da schon zu hoch, um ihn noch als Basis nutzen zu können.

Stillstand vor Kiew

In den ersten Märzwochen rückten russische Kräfte von mehreren Seiten auf Kiew vor. Zeitweise stand ein bis zu 40 Kilometer langer Militärkonvoi praktisch vor den Toren der Stadt, bis zum Fall von Kiew schien es nur eine Frage von Tagen zu sein. Doch der Konvoi bewegte sich keinen Meter mehr voran. Was war passiert? Kleine Gruppen von ukrainischen Kämpfern operierten in den waldreichen Gebieten abseits der größeren Straßen, spähten den Gegner mit kleinen Drohnen aus und griffen immer wieder mit tragbaren Panzerabwehrwaffen aus dem Hinterhalt an. Gezielt wurde dabei die Logistik ins Visier genommen: „Schießt auf die Tanklaster, nicht auf die Panzer“, lautete die Parole. Das zeigte Wirkung: Schon bald ging den Panzern der Sprit aus, umfangreiche Militärtechnik geriet so nahezu unbeschädigt in die Hände der Ukrainer. Den Russen blieb in vielen Fällen nur der Rückzug – oft hungrig, oft zu Fuß.

Die Rückschläge und unerwartet hohen Verluste führten zum Frust unter den russischen Soldaten, denen von Vorgesetzten erklärt worden war, dass sie als Befreier in der Ukraine begrüßt werden würden. Diesen Frust ließen zumindest einige von ihnen an der Zivilbevölkerung aus: In Irpin und Butscha wurden Hunderte massakriert – Frauen, Kinder, Alte. Ein brutales und verabscheuungswürdiges Kriegsverbrechen, wie es Europa mindestens seit den Tagen des Bosnien-Krieges nicht mehr erlebt hat.

In diesem Frühjahr 2022 wurde der Widerstandswille der Ukrainer sicht- und für die russischen Streitkräfte vor allem spürbar. Zu einer Symbolfigur des Widerstands wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Als die USA unmittelbar nach Beginn des Angriffs anboten, Selenskyj auszufliegen, sagte dieser am 25. Februar: „Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Die Fähigkeit des ukrainischen Präsidenten, sein Volk für den Kampf gegen den Aggressor anzustacheln, haben die Machthaber im Kreml wohl ebenso unterschätzt wie den geschlossenen Auftritt des Westens. In Deutschland reagierte Bundeskanzler Olaf Scholz mit der „Zeitenwende“-Rede im Bundestag. Er versprach der Ukraine militärische Unterstützung und vor allem ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Modernisierung der Bundeswehr. Eine erhoffte Spaltung und Schwächung der NATO blieb Russlands Präsident Wladimir Putin verwehrt. Im Gegenteil – der russische Despot muss nun mit einem noch größeren und stärkeren transatlantischen Bündnis an seinen Grenzen rechnen: Sogar die traditionell neutralen Staaten Schweden und Finnland wollen nun der NATO beitreten. Die Präsenz des Bündnisses an der Ostflanke wurde im Baltikum und in Rumänien massiv aufgestockt.

Russland konzentriert sich auf den Donbass

Anfang April gab Moskau schließlich sein Ziel auf, Kiew zu besetzen. Die russischen Truppen zogen sich aus dem Norden und Nordosten der Ukraine zurück. Der Krieg trat in eine neue Phase, als Russland seine Kräfte im Osten des Landes konzentrierte, um den Donbass unter Kontrolle zu bringen. Dort kam die russische Armee voran – zwar nur langsam und unter hohen Verlusten, aber dennoch stetig. Bereits in der Frühphase des Krieges war es den Russen gelungen, auch einen großen Teil der Südukraine einzunehmen. Trotz dieser teuer erkauften Erfolge musste Russland aber auch spektakuläre Rückschläge hinnehmen, wie etwa den Untergang des Raketenkreuzers „Moskwa“, dem Flaggschiff der Schwarzmeerflotte.

Um den russischen Vormarsch zu stoppen, setzte die Ukraine im weiteren Kriegsverlauf immer mehr auf schwere Waffen aus westlicher Produktion, und im Laufe des Sommers erreichten auch immer mehr solcher Systeme die ukrainischen Arsenale. Deutschland lieferte Panzerhaubitzen 2000, die USA Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS – nach Angaben der Ukraine ein „Gamechanger“. Mit den hochpräzisen Artilleriesystemen setzt die Ukraine Russland auch fernab der Frontlinien gehörig unter Druck: Ab Juli verging kaum ein Tag, an dem nicht ein russisches Munitions- oder Treibstofflager, eine Militärbasis oder eine Brücke zerstört wurde.

Aktuell gleicht die Situation einem blutigen Patt: Größere Verschiebungen im Frontverlauf gibt es in diesen Tagen kaum noch, Geländegewinne lassen sich auf beiden Seiten eher in Metern als Kilometern messen. Was sich fortsetzt, ist der Artillerie-Abnutzungskrieg, der vor allem auf ukrainischer Seite immer wieder zahlreiche zivile Opfer fordert. Eine friedliche Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht: Russland macht keine Anstalten, seine Truppen zurückzuziehen, während Selenskyj darauf pocht, dass alle besetzten Gebiete inklusive der 2014 von Russland annektierten Krim an die Ukraine zurückgegeben werden müssen, bevor es zu Friedensgesprächen kommt.

Große Feiern zum Unabhängigkeitstag wird es in der Ukraine kaum geben – im Gegenteil. Die ukrainische Führung hat seine Staatsbediensteten aufgefordert, wenn möglich im Homeoffice zu bleiben, die USA ihre Bürger, das Land unverzüglich zu verlassen. Zum ukrainischen Nationalfeiertag wird eine massive Bombardierung staatlicher Institutionen durch Russland befürchtet.

Sechs Monate Krieg in der Ukraine – eine Chronologie

24. Februar: Russland greift den souveränen Nachbarstaat Ukraine an.

26. Februar: Deutschland entscheidet, Waffen aus Beständen der Bundeswehr an die Ukraine zu liefern. Russische Geldhäuser sollen aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift ausgeschlossen werden.

27. Februar: Russlands Präsident Wladimir Putin versetzt die Abschreckungswaffen der Atommacht in Bereitschaft.

2. März: Die UN-Vollversammlung verurteilt die russische Invasion mit historisch großer Mehrheit.

4. März: Ein Feuer an Europas größtem Atomkraftwerk nahe Saporischschja schürt Ängste vor einer nuklearen Katastrophe.

8. März: Tausende Zivilisten werden aus der umkämpften Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine gerettet. Die USA verbieten den Import von Öl aus Russland.

16. März: Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ordnet das sofortige Ende der russischen Gewalt in der Ukraine an.

17. März: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht in einer Videobotschaft vor dem Bundestag.

24. März: Die Nato beschließt eine massive Aufrüstung und aktiviert die Abwehr chemischer, biologischer und atomarer Bedrohungen.

3. April: Gräueltaten an der Zivilbevölkerung in der Kiewer Vorstadt Butscha sorgen für Entsetzen. Die Ukraine zählt mehr als 400 Leichen.

8. April: Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof in Kramatorsk sterben mehr als 50 Menschen.

15. April: Russland bestätigt den Untergang des Raketenkreuzers «Moskwa». Die Ukraine behauptet, das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte versenkt zu haben. Moskau bestreitet das.

20. April: Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine überschreitet die Marke von fünf Millionen.

21. April: Im Osten der Ukraine hat die russische Armee mittlerweile den Großteil der Region Luhansk unter Kontrolle.

27. April: Russland stoppt Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien.

28. April: Der Bundestag gibt grünes Licht für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.

10. Mai: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock trifft Selenskyj in Kiew. Die deutsche Botschaft wird wiedereröffnet.

12. Mai: Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fordert auf seinem viertägigen Deutschland-Besuch die Lieferung westlicher Kampfjets und Raketenabwehrsysteme.

18. Mai: Schweden und Finnland beantragen offiziell die Nato-Mitgliedschaft.

20. Mai: Deutschland kündigt für Juli die Lieferung der ersten 15 Flugabwehrpanzer Gepard an die Ukraine an.

21. Mai: Russlands Armee hat nach eigenen Angaben die Hafenstadt Mariupol komplett unter Kontrolle. Zuvor hatten sich die letzten der mehr als 2400 ukrainischen Kämpfer im Stahlwerk Azovstal ergeben.

30. Mai: Die EU einigt sich auf den Stopp russischer Öl-Lieferungen über den Seeweg. Transporte per Pipeline sollen möglich bleiben.

31. Mai: Die USA wollen das Artilleriesystem Himars an Kiew liefern.

7. Juni: Bei einem Besuch in Vilnius sagt Bundeskanzler Olaf Scholz Litauen zusätzliche militärische Unterstützung gegen einen möglichen russischen Angriff zu.

11. Juni: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen führt in Kiew Gespräche über den EU-Beitrittsantrag der Ukraine.

14. Juni: Der russische Energieriese Gazprom verringert die maximalen Gasliefermengen durch die Ostseepipeline Nord Stream nach Deutschland um 40 Prozent.

21. Juni: Knapp vier Monate nach Kriegsbeginn sind die ersten Panzerhaubitzen 2000 aus Deutschland in der Ukraine eingetroffen, die modernsten Artilleriegeschütze der Bundeswehr.

23. Juni: Die Europäische Union nimmt die Ukraine sowie die Republik Moldau offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten auf.

27. Juni: Die russische Luftwaffe bombardiert ein Einkaufszentrum in der ostukrainischen Stadt Krementschuk. Es gibt nach ukrainischen Angaben mindestens 20 Tote.

29. Juni: Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg will die Nato ihre Kampfkraft massiv erhöhen. Auf einem Gipfel in Madrid beschließt das Bündnis ein neues strategisches Konzept.

9. Juli: Selenskyj hat den ukrainischen Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, entlassen. Dieser war unter anderem wegen Äußerungen über den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera in die Kritik geraten.

18. Juli: Die EU will weitere 500 Millionen Euro für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte zur Verfügung stellen, wie EU-Ratspräsident Charles Michel ankündigt.

21. Juli: Nach routinemäßigen Wartungsarbeiten fließt wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Die Liefermengen erreichen aber kaum ein Fünftel der Vorkriegswerte, die Sorge um eine stabile Energieversorgung im Winter bleibt.

26. Juli: Deutschland hat der Ukraine laut Verteidigungsministerium Mehrfachraketenwerfer und weitere Panzerhaubitzen geliefert. Russland kündigt an, nach 2024 aus der Internationalen Raumstation ISS auszusteigen.

29. Juli: Dutzende ukrainische Kriegsgefangene kommen bei einem Angriff auf ein Gefängnis unter Kontrolle der prorussischen Separatisten in der Ostukraine ums Leben. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig dafür verantwortlich.

1. August: Erstmals seit Beginn der russischen Invasion verlässt wieder ein Schiff mit Getreide den Hafen von Odessa in der Ukraine. Tage zuvor hatten sich die Parteien darauf verständigt, die erste größere Übereinkunft seit Kriegsbeginn.

9. August: Explosionen erschüttern eine russische Luftwaffenbasis auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim. Mehrere Flugzeuge werden zerstört, die Hintergründe bleiben unklar.

11. August: Die unübersichtliche Lage im von Russen besetzten Atomkraftwerk Saporischschja beschäftigt den UN-Sicherheitsrat. Das Kraftwerk gerät immer wieder unter Beschuss.

16. August: Auf der Krim detoniert ein russisches Munitionslager, Moskau spricht von einem «Sabotageakt».

18. August: UN-Generalsekretär Guterres und der türkische Präsident Erdogan treffen Selenskyj in der Ukraine, um Chancen zur Beendigung des Kriegs auszuloten.

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