Die Truppe, im Feld ungeschlagen, in der Heimat verraten, von hinten erdolcht. So rechtfertigte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg 1919 die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg. Foto: DPA/Picture Alliance

Die Truppe, im Feld ungeschlagen, in der Heimat verraten, von hinten erdolcht. So rechtfertigte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg 1919 die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg. Foto: DPA/Picture Alliance

14.05.2021
Dr. habil. Markus Pöhlmann

Von „Dolchstoß” und Blitzkrieg: Militärische Mythen am Lagerfeuer

Es war ein Gerücht, das 1914 geschürt wurde, um die Gewaltexzesse gegenüber der Zivilbevölkerung im besetzten Belgien zu verschleiern: Franktireure, bewaffnete Zivilisten, würden wahllos und heimtückisch deutsche Soldaten töten.

Am 18. November 1919 trat der letzte Chef der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, als Zeuge vor den Untersuchungsausschuss der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Dieser Ausschuss sollte Licht in die Ursachen der deutschen Niederlage von 1918 bringen. Der prominente Soldat nutzte die öffentliche Bühne für einen Angriff auf die damalige Reichsregierung und die Heimat: „Ich wollte kraftvolle und freudige Mitarbeit, und bekam Versagen und Schwäche.“ Die Armee sei „von hinten erdolcht“ worden. Wo die Schuld läge, so Hindenburg, sei „klar erwiesen.“ Die Heimat habe zu wenig geleistet, die heute verantwortlichen demokratischen Politiker und linke Revolutionäre hätten damals den Siegeswillen geschwächt.

Hindenburgs Aussage verkehrte dabei in besonderer Weise Ursache und Wirkung. Die Armee war nämlich seit dem Frühjahr 1918 vor allem durch enorm verlustreiche eigene Offensiven ausgeblutet worden. 1,34 Mio. Mann an Gesamtverlusten hatte das Heer allein zwischen März und Oktober zu verzeichnen gehabt. Während auf personellen und materiellen Ersatz auf deutscher Seite nicht mehr zu rechnen war, planten Franzosen und Briten inzwischen mit rund einer Million Amerikanern, die sich auf dem Weg nach Europa befanden. Natürlich hätte die deutsche Armee 1919 noch kämpfen können – sie hätte es dann aber auf den Stufen des Reichstages getan, wie fast 30 Jahre später.
 
Hindenburgs Aussage war auch zynisch gegenüber den eigenen Landsleuten, von denen die Spanische Grippe 1918/19 mindestens 250.000 hingerafft hatte. Mehr als 600.000 waren im Verlauf des Krieges regelrecht verhungert. Die so gescholtene Heimat hatte außerdem 2,04 Millionen Gefallene zu beklagen. Hindenburgs Aussage war schließlich unredlich. Sie diente vor allem dazu, sich aus der militärischen Verantwortung zu stehlen. Nachdem die Heeresleitung seit Anfang des Jahres 1918 durchweg die Siegesfanfaren geblasen hatte, hatte sie am 29. September – für Politik und Öffentlichkeit überraschend – einen sofortigen Waffenstillstand gefordert. Dass das nicht gut gehen konnte, lag auf der Hand. Nach jahrelangen Entbehrungen wollte jetzt auch unter den Soldaten keiner mehr um fünf vor zwölf sterben. Was blieb, waren Apathie, Verbitterung und Revolte.

Die von Hindenburg zwar nicht erfundene, aber im November 1919 öffentlichkeitswirksam propagierte Erzählung vom „Dolchstoß“ zählt wohl zu den bekanntesten Legenden in der deutschen Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie war nicht nur historisch falsch, sie wuchs vor allem zu einem Standardargument für die Feinde der deutschen Demokratie auf.

Nun erscheint uns Militär auf den ersten Blick als eine zutiefst rationale, bürokratische Institution. Tatsächlich waren dort aber „Schoten und Anekdoten“, waren „Latrinenparolen“ (nicht umsonst ein aus dem militärischen Kontext entlehntes Sprachbild), waren Gerüchte und Falschinformationen schon immer allgegenwärtig. Das ist auch nicht verwunderlich, weil das Handlungsfeld des Militärs, der Krieg, ein Raum von permanenter Unsicherheit und ungenügender Information ist.

Falsche Wahrnehmungen sind Ursprung von üblen Gerüchten

Mythen und Legenden stellen besondere Formen von ungesicherten Erzählungen dar, auch im Militär oder über das Militär. Bei ihnen geht es nicht um gezielte Falschinformation, die den Gegner irritieren oder diskreditieren sollen. Mythen und Legenden sind fein gesponnene Erzählungen. Die Geschichte spielt in ihnen eine tragende Rolle. Ganz allgemein gesprochen, versteht man unter „Mythos“ eine Erzählung, die Identität oder Sinn stiften soll. Beim Begriff der „Legende“ steht dagegen der Prozess selbst im Mittelpunkt. Eine historische Begebenheit wird immer wieder weitererzählt. Dabei wird sie zum Nutzen des Erzählenden oder um des Erzählens willen ausgeschmückt, laufend um neue, fiktive Details ergänzt oder umgedeutet.

Zwei Beispiele: Beim Einmarsch der deutschen Armee in Belgien und Frankreich kamen im August und September 1914 wahrscheinlich – die exakte Zahl ist umstritten – über 6.500 Zivilisten durch willkürliche Hinrichtungen und Standgerichte zu Tode. Die deutschen Soldaten gaben an, von Freischärlern, den aus dem Krieg von 1870/71 bekannten franc-tireur, aus dem Hinterhalt beschossen worden zu sein. Tatsächlich geht die Forschung heute davon aus, dass es sich in der ganz überwiegenden Zahl von Vorfällen um Beschuss durch reguläre gegnerische oder aber durch eigene Kräfte gehandelt hat, dass unerfahrene Führer und Soldaten im Orts- oder Nachtgefecht fehlerhaften Wahrnehmungen erlagen oder sich ganz einfach an der Zivilbevölkerung abreagierten. Gerüchte verbreiteten sich im Verlauf des Vormarsches und bildeten oftmals den Anlass für weitere Übergriffe und Verbrechen. Dabei ist es überhaupt nicht ausgeschlossen, dass es punktuell zivilen Widerstand gegeben hat, der durch das Kriegsvölkerrecht nicht abgedeckt war. Die mitunter behauptete Organisation eines belgischen Volkskrieges dagegen ist ein Mythos; entstanden in der Feuertaufe einer unerfahrenen Truppe, gefestigt durch zweifelhafte Presseberichterstattung und am Schluss präpariert zu einer großen Erzählung, die der Abwehr von Völkerrechtsvorwürfen dienen sollte. Diese Geschichte sollte Sinn stiften, wo keiner war. Im Kern war der angebliche „Franktireurkrieg“ schlicht die Geschichte eines vorübergehenden Kontrollverlusts auf allen Ebenen der militärischen Hierarchie.

Ganz anders gelagert ist die „Blitzkrieg-Legende“. Diese erzählt nicht vom militärischen Scheitern, sondern von einem überraschenden Erfolg. Als die Wehrmacht im Mai/Juni 1940 in sechs Wochen Frankreich und die Benelux-Staaten besiegte, verlangte das nach einer Erklärung – auch übrigens für die Sieger selbst. Die Antwort der Propaganda (und der späteren Erinnerungsliteratur) lautete: eine neuartige, auf Initiative, Panzerdivisionen und einer konsequent zur Unterstützung der Bodentruppen eingesetzten Luftwaffe beruhende Doktrin, smarte operative Planer und der vermeintlich strategische Weitblick des „Führers“. Tatsächlich war diese Art der Kriegführung nur in einem relativ kleinen Gelegenheitsfenster möglich gewesen. Die Wehrmacht hatte vielfach einfach auch Soldatenglück gehabt und der Gegner hatte es ihr besonders leicht gemacht. Vom eigenen Erfolg eingenommen, trat dieselbe Wehrmacht im Vertrauen auf ihre taktisch-operativen Fähigkeiten im Juni 1941 zum Angriff auf die Sowjetunion. Dort scheiterte die Idee eines schnellen Feldzuges dann auch recht schnell.

Alle drei Beispiele zeigen, Mythen und Legenden sind selten komplett erfunden. Sie gründen in der Regel auf irgendwelchen Fakten. Diese sind dann aber von den späteren Ausschmückungen, Ergänzungen und Verfälschungen nur noch schwer zu unterscheiden. Das Gesamtpaket entfaltet die nachhaltige Wirkung. Die Beispiele zeigen auch, dass die Begriffe „Mythos“ und „Legende“ selbst Kampfbegriffe in der wissenschaftlichen und der politischen Auseinandersetzung sein können.

Halt in Ordnungsmodellen aus der Vergangenheit

In seinem Buch „Retrotopia“ schildert der 2017 verstorbene polnische Sozialphilosoph Zygmunt Bauman unsere gegenwärtige Gesellschaft als eine, die sich angesichts einer unsicheren Gegenwart nicht länger an den Möglichkeiten einer Zukunft orientiert. Stattdessen sucht sie zunehmend Halt an Ordnungsmodellen der Vergangenheit. 

Mythen und Legenden sind genau die Geschichten, die an den „Lagerfeuern“ (Bauman) dieser Gesellschaft erzählt werden. Dabei sind diese Geschichten nicht per se unzweckmäßig oder schlecht. Im Militär können sie gemeinsames Wissen schaffen und sie können Gemeinschaft bilden. Problematisch werden sie allerdings dort, wo Annahmen, die auf Mythen und Legenden beruhen, zu falschen militärischen Schlüssen im Hinblick auf die Lösung zukünftiger Probleme führen. 

Mythen und Legenden können Tradition im Sinne der Richtlinien „Die Tradition der Bundeswehr“ nicht begründen. Gleichwohl lässt sich Traditionsverständnis durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen weiterentwickeln. Problematisch werden diese Erzählungen schließlich, wo sie instrumentalisiert werden, um die Werteordnung des Grundgesetzes infrage zu stellen. Im Militär gilt das mehr als in vielen anderen staatlichen Institutionen, weil sie dort seit jeher eine größere Rolle spielten.

Weiterführende Medien zum Thema Mythen und Legenden:

Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München (5. Aufl.) 2021.  
Gerhard P. Groß, Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Dolchstoßlegende, Ditzingen 2018.  
Military History Visualized. Kanal des YouTubers Bernhard Kast https://www.youtube.com/channel/UCK09g6gYGMvU-0x1VCF1hgA  
Das Panzermuseum. YouTube-Kanal des Deutschen Panzermuseums Munster https://www.youtube.com/user/DasPanzermuseum  

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