Weltweit regt sich der Protest gegen die russische Aggression gegenüber der Ukraine, so wie hier bei in Tokyo lebenden Ukrainern. Foto: picture alliance /AP/Hidenori Nagai

07.03.2022
Gunnar Kruse

"Der Kreml will die Sicherheitsordnung Europas fundamental verändern"

Prof. Dr. Joachim Krause ordnet im Interview nicht nur den Ukraine-Konflikt aus geopolitischer Sicht ein, sondern blickt auch auf die vergangenen drei Jahrzehnte.

Die Bundeswehr: Die sicherheitspolitischen Schlagzeilen hierzulande werden seit Längerem durch den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bestimmt. Seit zwei Wochen ist der Konflikt ein brutaler Krieg, den Putin mit einem völkerrechtswidrigen Überfall in die Ukraine getragen hat. Wie ordnen Sie die Situation aus geopolitischer Sicht ein?

Joachim Krause: Der sogenannte Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat tatsächlich eine viel weitergehende Dimension. Hier sehen wir den neuen Ost-West-Konflikt. Mitte Dezember 2021 hat Russland in ultimativer Form die NATO dazu aufgefordert, keine weiteren Mitglieder aufzunehmen, alle ausländischen Truppen aus den neuen Mitgliedstaaten abzuziehen und in Europa lagernde amerikanische Kernwaffen zurückzuholen. Anderenfalls würden „militärtechnische Lösungen“ erwogen. Gleichzeitig baute Russland eine militärische Drohkulisse gegenüber der Ukraine auf, die damit gleichsam zur Geisel genommen wurde. Hier geht es nicht um einen begrenzten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, sondern darum, dass der Kreml die Sicherheitsordnung Europas fundamental verändern will. Ich befürchte, dass die Dramatik dieser Herausforderung von der deutschen Bundesregierung (und derjenigen Frankreichs) immer noch nicht verstanden worden ist – weil man sich den dann fälligen Konsequenzen (mehr Aufwendungen für Rüstung und Inkaufnahme schmerzhafter ökonomischer Konsequenzen von Sanktionen) nicht stellen will. Auch ist nicht verstanden worden, welch große Risiken der russische Präsident Putin derzeit eingeht. Wer sich davon eine Vorstellung machen will, sollte sich den Brief mehrerer ehemals hochrangiger russischer Militärs anschauen, die Putin des militärischen Abenteuertums bezichtigen und darauf verweisen, dass weder die NATO noch die Ukraine Russland aktuell militärisch bedrohen. Putin wolle nur von seinen inneren Problemen ablenken. Der russische Präsident ist ein hochgradig gefährlicher Hasardeur. Er hätte nie ein derartiges Ultimatum gestellt, wenn er nicht den Eindruck gewonnen hätte, dass der Westen geschwächt ist. Dazu gibt es leider auch Anlass: Die USA sind innenpolitisch zerrissen, der Afghanistan-Einsatz hat sich als Katastrophe erwiesen und – last but not least – die Bundesrepublik Deutschland und auch Frankreich verfolgen seit zwei Jahrzehnten eine illusorische und realitätsferne Russlandpolitik. Die dadurch bewirkte Abhängigkeit Deutschlands von Russland (insbesondere, was Gaslieferungen betrifft) und der nahezu vollständige Ausfall der Bundeswehr als eines Abschreckungsfaktors gegenüber Russland haben entscheidend dazu beigetragen, dass Putin heute glaubt, derartige militärische Risiken eingehen zu können. Über diese Zusammenhänge zu reden, ist in der deutschen Politik weitgehend tabu. Die NATO und die USA haben die ultimativen Forderungen Putins zurückgewiesen und dieser hat nun den Angriff auf die Ukraine eingeleitet. Der Westen wird jetzt Sanktionen beschließen und Russland wird asymmetrisch antworten – möglicherweise mit Militäraktionen gegen Polen oder das Baltikum und mit der Einstellung von Gaslieferungen. Und wie reagieren wir? Die deutsche Politik ist darauf unvorbereitet, weil sie in der Vergangenheit die mahnenden Stimmen nicht hören wollte.

Wie bewerten Sie die bisherige Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015, mit dem der Ukraine-Konflikt entschärft werden sollte?

Die Minsk-Vereinbarungen waren wichtig, um einen – allerdings brüchigen – Waffenstillstand zugunsten der Ukraine zu erreichen. Sie waren aber von Anfang an verlogen, weil sie Russland nicht eingebunden haben (welches angeblich nichts mit den Truppen und den Gewaltherrschern in den sogenannten Volksrepubliken zu schaffen hat und sich nur als „Vermittler“ sieht). Die Minsker Vereinbarungen beinhalten Formeln, die die unvereinbaren Positionen beider Seiten übertünchen. Diese Positionen haben sich als unüberbrückbar erwiesen, da hat auch die „Steinmeier-Formel“ nicht weitergeholfen, die helfen sollte, ein Sequenzierungsproblem zu überwinden. In der Zwischenzeit sind von russischer Seite derart viele einseitige Schritte unternommen worden, dass eine Rückgabe der Gebiete an die Ukraine, unter welchen Bedingungen auch immer, kaum noch vorstellbar ist. Putin hat nun den Minsk-Prozess völlig zerstört.

Noch viel länger dauert der China-Taiwan-Konflikt an, auch die Sahelzone kommt seit vielen Jahren nicht zur Ruhe. Wie bewerten Sie die weltweite Sicherheitslage? Gibt es Krisenherde, auf die Sie mit besonderer Sorge schauen?

Ich sehe mit großer Sorge die Politik Pekings gegenüber Taiwan, welches diesen demokratisch regierten Staat schlichtweg schlucken will. Aber auch hier ist der Konflikt nicht geografisch begrenzt, tatsächlich ist das geopolitische Problem sehr viel weitgehender. China strebt – ebenso wie Russland in Europa – eine internationale Ordnung in Ostasien und im Pazifikraum an, die auf China ausgerichtet ist und in der die USA und deren Allianzen keine Rolle mehr spielen sollen. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt China wirtschaftliche, politische und militärische Druckmittel in einer systematischen und koordinierten Weise ein, zu der demokratisch verfasste Staaten nicht in der Lage sind. Es geht China um die Ablösung der USA als globaler Vormacht und um den Export eines autoritären – um nicht zu sagen: totalitären – Regierungssystems. Eine große Gefahr ist dabei, dass China Taiwan und Russland die Ukraine oder gar die baltischen Staaten zur gleichen Zeit angreifen. Neben den Ambitionen Chinas und Russlands machen mir die regionalen Vormachtsambitionen des Iran große Sorgen, nicht zuletzt, weil der Iran Kernwaffen baut und irgendwo der Punkt erreicht ist, wo es zu einem Schlagabtausch mit Israel kommen kann. Die Lage im Nahen Osten ist zudem an vielen Stellen instabil und wird durch russische Militäreinsätze zugunsten autoritärer und korrupter Machtpolitiker nicht besser. Die Sahelzone ist eine weitere Krisenzone, die ihre eigene Dynamik hat und die für uns vor allem wegen des damit verbundenen Migrationsdrucks bedeutsam ist.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges schien die Welt vor gut 30 Jahren so friedlich wie nie zuvor. Heute scheint ein erneuter Kalter Krieg heraufzuziehen – oder ist es für manchen bereits. Wie konnte es dazu kommen?

Ja, wir befinden uns in einem neuen Kalten Krieg, wobei nicht einmal sicher ist, ob dieser auch tatsächlich „kalt“ bleiben wird. Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. In erster Linie ist der Aufstieg Chinas zu einer den USA wirtschaftlich, technologisch und militärisch gleichwertigen Macht zu nennen. Bis vor wenigen Jahren sahen viele Anlass zur Hoffnung, dass das Wachstum Chinas durch Einbindung in multilaterale Institutionen und Regeln (zum Beispiel der Welthandelsorganisation) in geordneten Bahnen verlaufen könnte und gleichsam organisch eine neue, friedliche Multipolarität entstehen könnte, bei der es keine Gewinner oder Verlierer geben würde. Diese Erwartung war eigentlich schon immer nicht sehr realistisch und hat sich spätestens seit dem Amtsantritt Xi Jinpings vollkommen zerschlagen.

Das von der Kommunistischen Partei in totalitärer Weise regierte China möchte global zur Vormacht werden und sein Regierungssystem als Vorbild für andere werden lassen. Hier erleben wir die Wiederkehr der unheilvollen Vision, die George Orwell in seinem 1948 erschienenen Roman „1984“ ausgebreitet hat. Der zweite Grund ist, dass sich Russland durch den relativen Aufstieg Chinas – und die damit verbundene Ablenkung der USA – ermuntert sieht, die politische Neuordnung der Jahre 1990 bis 1997 in Europa infrage zu stellen und mit Erpressung und der Anwendung militärischer Machtmittel eine Revision anzustreben, die den früheren imperialen Besitzstand Russlands weitgehend wiederherstellt. Der dritte Grund ist die derzeitige Schwäche der westlichen Welt. Diese hat innergesellschaftliche Gründe, sie hat aber auch mit politischen Fehlentscheidungen und falschen Weichenstellungen der letzten 30

Jahre zu tun. Zu den politischen Fehlentscheidungen zählen die im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“ versuchten Nation-Building-Operationen im Irak und in Afghanistan, die enorme Ressourcen verschlungen und die USA politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich geschwächt haben. In Europa, insbesondere in Deutschland, ist es zu falschen Weichenstellungen gekommen, die die Fähigkeit der westlichen Staatengemeinschaft erheblich beeinträchtigt haben, auf die russische und die chinesische Herausforderung heute mit der notwendigen Stärke zu reagieren. Deutschland hat sich nach 1990 in der Illusion des „Endes der Geschichte“ verrannt und jegliches strategische Denken aus der Politik verbannt. Das rächt sich jetzt.

Anfang der 90er Jahre kam es in vielen Ländern zu extremen Einsparungen im Rüstungs- und Militärbereich. Die Staaten konnten die sogenannte Friedensdividende für andere Dinge einsetzen. War das vielleicht – auch in Deutschland – etwas vorschnell?

Die Verkleinerung der Bundeswehr war konsequent und hätte mit strategischem Verstand zu einem sinnvollen Unternehmen werden können. Bis Ende der 90er Jahre ging es tatsächlich noch darum, die Bundeswehr zu verkleinern und sowohl Verteidigungsfähigkeit wie Interventionsfähigkeiten vorzuhalten. Im neuen Jahrhundert ist dieser Prozess mehr oder weniger ohne strategische Anleitung erfolgt und praktisch aus dem Ruder gelaufen. Die Bundeswehr ist heute nur noch begrenzt zur Bündnisverteidigung in der Lage, wir haben keine funktionierende Luftabwehr, unsere Interventionstruppen sind durch die Einsätze in Afghanistan und anderswo abgenutzt und die Kosten einer Wiederaufrüstung der Bundeswehr (und der innerhalb der Allianz zugesagten Verstärkung) sind in Berlin politisch umstritten. Für diese Lage tragen die Unionsparteien und die SPD gleichermaßen die Verantwortung. Leider hat sich in unserer politischen Klasse die Vorstellung durchgesetzt, dass Verteidigungsfähigkeit zweitrangig und sogar gefährlich ist und Diplomatie und Rüstungskontrolle alle militärischen Bedrohungen aus dem Weg schaffen können. In der Ära der Kanzler Schröder und Merkel hat sich in Deutschland ein vulgärpazifistisches „Erweckungsdenken“ (englisch: „wokeness“) breitgemacht, welches von Anbeginn an völlig unrealistisch war. Der scharfe Kontrast zur Realität tritt in dieser Krise nun voll zutage. Ob die derzeitige Koalition den Mut zum Umsteuern aufbringen wird, wird sich zeigen.

Zurück zum Ende der 80er Jahre: Mit dem Fall der Mauer und dem so raschen und überwiegend friedlichen Zusammenbruch des Ostblocks hatte damals wohl kaum einer gerechnet, die meisten wurden schlicht positiv überrascht. Können Sie sich vorstellen, dass eine ähnliche Zäsur der Weltgeschichte nochmals eintreten könnte? Dass sich beispielsweise die totalitäre Volksrepublik China quasi plötzlich zu einer Demokratie entwickelt?

Ich beschäftige mich seit mehr als 40 Jahren beruflich mit internationaler Politik und habe in dieser Zeit so viele Dinge erlebt, die keiner für möglich gehalten hatte – im Guten wie im Schlechten. Deswegen will ich nichts ausschließen, aber wetten würde ich nicht auf einen demokratischen Wandel in China.

 

Professor Dr. Joachim Krause ist Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für strategische Analysen SIRIUS.

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