Die Staats- und Regierungschefs der 30 Bündnisstaaten haben sich zur ersten Arbeitssitzung beim NATO-Gipfel in Madrid versammelt. Sie haben bei dem zweitägigen Spitzentreffen Entscheidungen zur Umsetzung der Reformagenda „NATO 2030“ getroffen. Foto: picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

23.09.2022
Von Jörg Vollmer

Der Schwerpunkt heißt nun wieder Verteidigung der NATO-Mitglieder

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist ein tiefgreifender Einschnitt in die europäische Sicherheitsordnung. Seit dem NATO-Gipfel in Madrid ist Russland nun die größte und unmittelbarste Bedrohung – und das hat natürlich Auswirkungen auf Deutschland.

Der 24. Februar 2022 ist eine Zäsur. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die brutale menschen- und völkerrechtsverachtende Kriegführung Russlands ist ein tiefgreifender Einschnitt in die europäische Sicherheitsordnung. Zu Recht ist dies als eine Zeitenwende bezeichnet worden. Tatsächlich aber ist es der Kulminationspunkt der Fortsetzung der russischen Machtpolitik seit 2014. Seit der Annexion der Krim und dem Beginn der Kriegführung im Donbas ist die europäische Sicherheitsordnung in ihren Grundprinzipien durch Moskau infrage gestellt, bekämpft und herausgefordert worden mit dem Ziel, eine andere europäische Sicherheitsordnung zu errichten. Für die NATO ist Russland seit dem NATO-Gipfel in Madrid die „größte und unmittelbarste Bedrohung“. Der Schwerpunkt liegt wieder auf der Kernaufgabe, der Verteidigung der NATO-Mitgliedsländer.

Die NATO hat beginnend in 2014 entschlossen gehandelt. Die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs der NATO in Wales in 2014 und in Warschau in 2016 haben unter anderem zur verstärkten Präsenz in den drei baltischen Staaten und in Polen geführt, zur Stationierung der vier enhanced Forward Presence Battlegroups (eFP BG) in den vier vorgenannten Staaten, zur deutlichen Verbesserung der Einsatzbereitschaft der NATO Response Force (NRF), einem einheitlichen Ziel der Steigerung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts, der Umstrukturierung des Multinationalen Korps Nord-Ost in Stettin zu einem High Readiness Corps mit einem klar zugeordneten regionalen Verantwortungsraum. Die richtigen Entscheidungen wurden getroffen. Die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte haben sie nicht beseitigt.

Die vorangegangenen Zeitenwenden in 1989 und 2001 hatten in der Folge maßgeblich die Verteidigungsbereitschaft der Allianz eingeschränkt. Der Fall der Berliner Mauer in 1989 und die anschließende Wiedervereinigung Deutschlands, die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts hatten den Fokus verschoben. Der Zerfall Jugoslawiens und die Kriege auf dem Balkan prägten das Denken und Handeln. Schritt für Schritt wurden die Streitkräfte, insbesondere die der Europäer, verkleinert, Kommandostrukturen aufgelöst und der Schwerpunkt auf jeweils maßgeschneiderte, zeitlich begrenzt eingesetzte Truppenkontingente für Auslandseinsätze gelegt.

20 Jahre Afghanistan haben ihre Spuren hinterlassen

Die nächste Zeitenwende vom 11. September 2001 verstärkte diese Entwicklung. Der „War on Terror“ wurde das bestimmende Paradigma. Der Krieg in Afghanistan und ab 2003 im Irak führten zu einer Neuausrichtung der internationalen Sicherheitspolitik. Non-Article-5-Operationen, Peace Support Operations, Operations other than War bestimmten die Debatte. „Vom Einsatz her denken“ und „Armee im Einsatz“ wurden zu bestimmenden Metaphern in der Ausrichtung der Streitkräfte in Deutschland. 20 Jahre Afghanistan-Einsatz haben am Ende ihre Spuren hinterlassen, mental und materiell.

Landes- und Bündnisverteidigung waren in den Hintergrund getreten, die Einsatzbereitschaft wurde nachhaltig beschädigt. Die sogenannte Friedensdividende wurde zulasten der Streitkräfte in andere Bereiche eingepreist. All dies ist keine neue Erkenntnis und spätestens seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas bekannt. Das Bonmot „Deutschland ist nur noch von Freunden umgeben“ stimmt, aber es berücksichtigt nicht, dass eben diese Freunde ihrerseits in Gefahr sind. Wir haben unseren Freunden aus Estland, Lettland, Litauen und Polen nicht aufmerksam zugehört. Russland hat in den vergangenen Jahrzehnten immer auch militärische Mittel zur Herrschaftssicherung eingesetzt, wie unter anderem in den beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien in 2008, in der Ukraine in 2014 und nun erneut raumgreifend mit konventionellen Streitkräften und unterstützt durch alle Mittel der hybriden Kriegführung.

Die Beschlüsse des Madrider Gipfels sind ein Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen für die Verteidigungsplanung und ihre Operationalisierung, für die Bereitstellung von einsatzbereiten Kräften, die zukünftige Kommandostruktur und die Zuordnung von Verantwortungsräumen. Die Beitritte von Schweden und Finnland zur NATO werden mit ihren Fähigkeiten die Verteidigungsfähigkeit der NATO, ganz besonders auch aufgrund ihrer Rolle und Verantwortung an der Nordflanke der NATO und als Anrainerstaaten der Ostsee, nachhaltig verstärken. Das wird mittelfristig zu einer Neuordnung der Kommandostruktur führen.

Verteidigung umfasst alle Dimensionen bis zu Cyber und Space

Das neue Strategische Konzept sieht erstmals wieder einen Gesamtverteidigungsplan für das Bündnisgebiet vor, mit einvernehmlich definierten regionalen Verantwortungsräumen und regional fest zugeordneten Kräften in allen Dimensionen. Die neuen regionalen Pläne werden die nach 2014 entwickelten abgestuften Reaktionspläne zur Sicherung der Ostflanke der NATO ablösen.

Auf der Grundlage der regionalen Verteidigungspläne werden die Mitgliedstaaten zu belastbaren Zusagen im Rahmen des neuen „New Force Model“ aufgefordert werden; in einem ersten Schritt wächst dieses bereits parallel zu den derzeitigen Planungen auf. Aufgrund des russischen Bedrohungspotenzials und unter Berücksichtigung der jeweiligen geographischen Besonderheiten werden die Kräfte und Fähigkeiten definiert, die für eine erfolgreiche Verteidigung notwendig sind; dies immer joint und combined, in allen Dimensionen, einschließlich Cyber und Space. Das erfordert von allen Mitgliedstaaten ein Umdenken.

Verbindliche und dauerhafte Übernahme von Verantwortung ist gefordert. Einsatzbereite Streitkräfte mit verbindlichen Bereitschaftszeiten von zehn, 30 oder 180 Tagen sind gefordert, mit jeweils klar zugeordneten Verantwortungsräumen. Nicht mehr auftrags- und anlassbezogene Kräftegenerierung wie für die Einsätze im ehemaligen Jugoslawien, im Kosovo, in Afghanistan, im Irak oder in Afrika ist die Regel, sondern die verbindliche und langfristige Einmeldung von einsatzbereiten Streitkräften, regional zugeordnet und gemäß der jeweiligen Bereitschaftszeit abgestuft mobilisierbar. So wird mittelfristig die NRF mit ihren 40.000 Soldaten abgelöst werden durch eine jederzeit rasch verfügbare Streitkraft von 300.000 Soldaten.

Die regionalen Pläne werden derzeit durch die drei operativen Hauptquartiere der NATO in Brunssum, Neapel und Norfolk erarbeitet. Zur Umsetzung werden nicht nur fest zugeordnete Truppenteile benötigt, sondern auch die notwendigen nachgeordneten Hauptquartiere, die die operativen Planungen in taktische Pläne umsetzen und regelmäßig zertifizieren und beüben. Die Nationen werden sich entscheiden müssen, welchen Auftrag sie zukünftig mit ihren nationalen und multinationalem Korps-Hauptquartieren übernehmen werden. Die jährliche Rotation der Aufgaben der Korpsstäbe wie im Long Term Commitment Plan derzeit festgelegt, wird durch eine verbindliche Verantwortungsübernahme im „New Force Model“ unter Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Pläne abgelöst werden.

Deutschland wird aufgrund seiner geographischen Lage in Zentraleuropa mehr Verantwortung übernehmen. Die Erwartung und das Vertrauen bei den Nachbarstaaten sind groß. Die „logistische Drehscheibe Deutschland“ mit dem Joint Support Enabling Command (JSEC) ist nur ein – wenn auch wichtiger – Aspekt. Die Verstärkung der eFP BG in Litauen und ihr Aufwuchs im Krisenfall zu einer Brigade, die Einmeldung einer Division sowie von 60 Flugzeugen und 20 Schiffen für die Verteidigung Nordosteuropas in das „New Force Model“ sind ein erster notwendiger und deutlich wahrgenommener Schritt.

Deutschland ist mehr als nur die „logistische Drehscheibe“

Der Krieg in der Ukraine ist ein Kampf um Räume und um Städte. Er ist landlastig und am Ende wird die Entscheidung am Boden herbeigeführt werden. Jedes Gefecht wird stets teilstreitkraftübergreifend geführt. Aber um die NATO-Mitglieder erfolgreich verteidigen zu können, werden immer – bereits auch im Frieden – präsente, kriegstüchtige, schnell verlegbare Großverbände der Landstreitkräfte benötigt, die voll ausgestattet kurzfristig alarmiert werden können. Hier ist Deutschland besonders gefordert.

Glaubhafte Abschreckung beruht immer auf einsatzbereiten Streitkräften. Ohne sie sind alle Pläne nur Makulatur. Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben in Madrid einen Paradigmenwechsel entschieden. Bündnisverteidigung ist erneut der klare Schwerpunkt der NATO. Diese basiert auf verbindlichen regionalen Verantwortungsräumen, auf umsetzbaren strategischen und operativen Planungen, einer verbindlichen Kommandostruktur, die von Frieden über Krise bis zum Krieg verantwortlich führt, und einsatzbereiten voll ausgestatteten Großverbänden, die rasch und verzugslos im Rahmen ihrer Aufträge verlegt werden können.

Jeden Zentimeter des NATO-Gebietes zu verteidigen, wie es der Bundeskanzler, der US-Präsident und der NATO-Generalsekretär formuliert haben, heißt nicht, alle Truppen an der Ostgrenze der NATO vorauszustationieren, sondern diejenigen Fähigkeiten ständig vorne bereitzustellen, die sofort verfügbar sein müssen. Weitere Kräfte sind verlässlich so bereitzuhalten, dass sie umgehend und vor allem zeitgerecht verlegt werden können. Das bedarf der verbindlichen Übernahme von Verantwortung, und das muss regelmäßig mit allen Kräften vor Ort geübt werden. Das trägt zur glaubhaften Abschreckung bei und schafft Vertrauen bei den am meisten bedrohten Bündnismitgliedern.

Verantwortung zu übernehmen, heißt auch Lastenteilung ernst zu nehmen. Unsere US-Verbündeten werden immer eine Schlüsselrolle in der Verteidigung Europas wahrnehmen. Das haben sie eindrucksvoll sowohl nach 2014 als auch nach dem 24. Februar 2022 unter Beweis gestellt. Mit den Entscheidungen von Madrid kommt es jetzt darauf an, dass die europäischen NATO-Mitglieder deutlich mehr tun müssen zur Verbesserung der gemeinsamen Verteidigung in Europa. Das schafft für die USA die notwendigen Freiräume im Indo-Pazifik und gegenüber China. Lastenteilung im Bündnis verlangt, Schwerpunkte zu setzen und knappe Ressourcen zweckmäßig einzusetzen. Oder anders ausgedrückt, Deutschland wird nicht mehr am Hindukusch verteidigt, sondern an der Nordostflanke der NATO.

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