Die Ankunft von Schutzbedürftigen in Taschkent. Foto: Bundeswehr/Tessensohn.

07.09.2021
Franziska Kelch

Rückblick auf die Evakuierungsmission: „Das ist wie ein Schachspiel“

Nach den tagesaktuellen Presse-Briefings zum Stand der Evakuierungsoperation in Afghanistan zog das Verteidigungsministerium am 6. September in einer „vorläufigen Bewertung“ Bilanz. Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, sowie Brigadegeneral Jens Arlt informierten über den Ablauf der Evakuierung und die enormen Herausforderungen. Kramp-Karrenbauer und der Generalinspekteur formulierten darüber hinaus erste politische und militärische Ableitungen. 


Die Ministerin bilanzierte, dass die Bundeswehr „5347 Menschen aus 45 Ländern evakuieren konnten“, darunter „deutsche Staatsangehörige mit afghanischen Familienangehörigen, Ortskräfte und designierte schutzbedürftige Personen.“ Sie verwies darauf, dass die Bundeswehr mit einem der „stärksten Kontingente mit als einer der Ersten vor Ort“ gewesen sei. Zur Frage der Ortskräfte betonte sie, dass das Ministerium „alles daransetzen“ werde, diese aus Afghanistan herauszuholen: „Das hat jetzt auch sehr viel mit diplomatischen Bemühungen zu tun“, so Kramp-Karrenbauer und nahm damit ganz deutlich auch das Auswärtige Amt in die Pflicht.
„Wir haben wie zugesagt auf der einen Seite unsere Teams im Einsatzführungskommando im Call Center verstärkt, damit wir Kontakt halten und zu denen Kontakt aufnehmen können, zu denen wir im Moment noch keinen Kontakt haben,“ führte die Ministerin weiter aus. Darüber hinaus hielte die Bundesrepublik mit den Botschaften und Militärattachés in den Nachbarländern Afghanistans Kontakt, um zu koordinieren, wie mit den Ortskräften zu verfahren sei, die auf dem Landweg in die Nachbarländer flüchten. Wie in den nächsten Monaten mit den Taliban umzugehen sei, ließ die Ministerin offen.


Vom Treffen der EU-Verteidigungsminister in Slowenien berichtete die Ministerin ebenfalls. Kramp-Karrenbauer knüpfte an ihre Vorschläge zu einer schnellen europäischen Eingreiftruppe an, die ausdrücklich keine „Abkehr von den Amerikanern“ sein solle, aber die EU zu eigenständigem Handeln befähigen solle. „Aus unserer Sicht ist das weniger eine Frage, was an Truppen zur Verfügung gestellt wird, sondern es ist eine Frage nach welchen Kriterien die Entscheidungsgänge ablaufen und wer die Operation führen würde. Ist der Artikel 44 anwendbar? Ist eine Idee der Nord-Europäer anwendbar, für gewisse regionale Situation gleich Federführung gewisser nationaler Armeen zu schaffen?“ Sie kündigte dazu ein Arbeitspapier an, an dem diverse europäische Nationen mitwirken wollen.
In den vergangenen Tagen war die Rede immer wieder von der mangelnden Strategiefähigkeit der Bundesregierung. So hatte der Bundesvorsitzende des DBwV, Oberstleutnant Andrè Wüster gefordert, Deutschland müsse strategiefähiger werden.  Die Ministerin stellte in Aussicht, dass bei einem informellen Seminar der Verteidigungsminister in Slowenien im Oktober auch „Fragen des strategischen Kompasses“ zu besprechen seien.

Generalinspekteur kündigt gründliche Auswertung an

Der Generalinspekteur zog aus militärischer Perspektive eine positive Bilanz. „Die Krisenvorsorgemaßnahmen, die die Bundeswehr vorhält, haben sich in der Summe bewährt,“ so Zorn. Explizit nannte er dabei das ständig bereitstehende Kräftedispositiv von 2.900 Soldatinnen und Soldaten, die Krisenunterstützungsteams für die Botschaften im Ausland und den Einsatzstab des Einsatzführungskommandos in Potsdam. Anerkennung zollte er auch den Besatzungen des A400M: „Das Material hat der Dauerbelastung standgehalten. Auf die Besatzungen war zu jeder Zeit verlass, auch hinsichtlich ihrer Kreativität und der Ausschöpfung aller Möglichkeiten dieser Maschinen.“ Man habe außerdem sofort ein „Nachbereitungsprogramm“ aufgesetzt, um in den nächsten etwa 24 Wochen den Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit zu bieten, psychische und physische Belastungen des Einsatzes aufzuarbeiten. „Und schließlich haben wir den Auswertungsprozess in Gang gebracht, um auf allen Ebenen zu prüfen, wo wir die Ausstattung verbessern oder die Prozeduren verändern können und welche Auswirkungen das auf die Übungen hat, die wir im Einjahrestakt durchführen.

Der Flughafen wurde zum Nadelöhr

Brigadegeneral Jens Arlt verwies abschließend auf die zahlreichen Herausforderungen vor Ort. Die erste war aus seiner Sicht die „Zentralisierung auf Kabul“ durch den Wegfall anderer Flughäfen. Erschwerend hinzu kam, dass es sich nicht um eine „gesicherte Rückführung“ gehandelt habe, sondern dass die „Rückführung von Personal mit einem militärischen Anteil in Einklang zu bringen“ war. Das habe zu besonderen Herausforderungen etwa für die Logistik geführt, deren Aufgaben zusätzlich erschwert wurden, da „Kontraktoren“ vor Ort nicht mehr zur Verfügung standen. Arlt hob hervor: „Die Bundeswehr war recht zeitnah vor Ort und hat mit den Amerikanern ein Schleusensystem etabliert.“ Dass habe in Folge dazu geführt, dass ausländische Botschafter und Botschafterinnen auf die Bundeswehr zugekommen sind, um sich „ein Bild schildern zu lassen“. „Mit Blick ins Gelände“ war schnell klar, dass der Plan „an einem geschlossenen Punkt große Gebinde zusammenzuführen und reinzubringen nicht funktionieren wird.“ Das sei auch in die Hauptstädte kommuniziert worden, so Arlt. Da allen betroffenen Nationen aber klar war, dass der Zeitdruck für einen Rückzug und die Evakuierung groß war, fand ein „Aufwuchs der Nationen“ statt und alle „versuchten gleichzeitig die gleichen Dinge durchzuführen“, was einen enormen Koordinationsaufwand erzeugte. Sein Fazit: „Wenn alle zur gleichen Zeit durch das gleiche Nadelöhr wollen, dann haben sie einen klassischen Stau.“
Der General äußerte sich auch zu den dramatischen Zuständen an der Schleuse, an der Schutzsuchende aus Kabul und ganz Afghanistan ankamen. Die Soldatinnen und Soldaten seien mit Menschen konfrontiert gewesen, die „geschunden ausschauten, mit zerrissener Kleidung, teilweise blutüberströmt.“ Unter diesem Druck galt es Dokumente und Listen zu überprüfen, zu registrieren und sicherzustellen, dass keine „Explosivstoffe“ eingebracht werden konnten.

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