Kleine militärische Schlauchboot-Feier aus Anlass der NATO-Osterweiterung 1999 auf der Neiße bei Porajow in Polen: Die Offiziere Ota Netrval aus der Tschechischen Republik, Ulrich Fricke von der Bundeswehr und Jan Zydron aus Polen (v.l.n.r.) reichten sich frohgesinnt die Hände. Denn im NATO-Hauptquartier in Brüssel wurden an jenem 16. März 1999 zum ersten Mal die Flaggen der neuen NATO-Partner Polen, Tschechien und Ungarn gehisst. Foto: picture-alliance/ZB|CAF/Hawalej

24.07.2022
Von Frank Schauka

Die Osterweiterung der NATO: Basiert sie auf einem Wortbruch des Westens?

Unbestreitbar hat sich die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges in fünf Etappen ostwärts in Richtung Russland entwickelt. 14 neue Mitgliedstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, die der sowjetischen Hegemonie jahrzehntelang unterworfen waren, kamen von 1999 bis 2020 hinzu. Auch der Ukraine und Georgien wurden bereits 2008 Mitgliedschaften in Aussicht gestellt.

Unbestreitbar ist auch – spätestens seit Putins Rede bei der 43. Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2007 –, dass Russland die Osterweiterung der NATO als bedrohlich wahrnimmt, zumindest als Bedrohung darstellt. Die Erweiterung sei „ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt“, hatte der russische Präsident seinerzeit gesagt und zudem dem Westen Wortbruch vorgeworfen. „Was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben?“, stellte Putin als Frage in den Raum. Der frühere NATO-Generalsekretär Manfred Wörner, so führte Putin als vermeintlichen Beleg an, habe am 17. Mai 1990 in Brüssel gesagt: „Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“

Im April 2009 schien der ehemalige sowjetische Präsident Michail Sergejewitsch Gorbatschow Putins Version zu bestätigen. Im Interview mit der „Bild“-Zeitung sagte Gorbatschow: „Bundeskanzler Helmut Kohl, US-Außenminister James Baker und andere sicherten mir zu, dass die NATO sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde. Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat.“

Eine Revision seiner Ausführungen von 2009 nahm Gorbatschow selber fünf Jahre später vor – womit er zugleich Putins Behauptungen auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Grundlage entzog. Im Oktober 2014 stellte Gorbatschow im Interview mit der russischen Zeitung „Kommersant“ klar: „Das Thema NATO-Expansion wurde überhaupt nicht diskutiert, und es wurde in diesen Jahren nicht aufgeworfen.“ Gemeint waren die Umbruchjahre 1989/1990.

„Nicht ein einziges osteuropäisches Land hat diese Frage angesprochen, noch nicht einmal nachdem der Warschauer Pakt 1991 aufgehört hatte zu existieren“, sagte Gorbatschow. „Westliche Staats- und Regierungschefs haben sie auch nicht erhoben.“ Eine Beschäftigung mit dem Thema fand gleichwohl statt, allerdings auf der Ebene der Außenminister. Der deutsche Chefdiplomat Hans-Dietrich Genscher hatte Anfang 1990 die Frage einer NATO-Osterweiterung gestellt und sich dagegen ausgesprochen – wofür Genscher anschließend von Bundeskanzler Helmut Kohl zur Rede gestellt und heftig kritisiert wurde.

Irritation nach Äußerungen von US-Außenminister Baker

Auch US-Außenminister James Baker sprach sich Anfang 1990 – am 9. Februar 1990 – gegen eine Erweiterung der NATO aus. Doch das war seine persönliche Auffassung und nicht die Position der US-Administration. Der Historiker Ignaz Lozo, der mit allen wichtigen Akteuren der Verhandlungen im Jahr 1990 ausführliche Gespräche geführt hatte, befragte Baker später auch zu diesem Vorgang.

In einem aktuellen Interview mit der „Welt“ vom 26. Februar 2022 gibt Osteuropa-Experte Lozo James Bakers Antwort von damals so wieder: „Baker sagte mir: Ich hatte das weder mit dem Weißen Haus noch mit dem Nationalen Sicherheitsberater abgestimmt. Zwei Tage nach meinen Äußerungen gegenüber Gorbatschow zur NATO-Erweiterung änderten die USA ihre Position. Die Sowjets wussten das, und sie verloren kein Wort darüber.“

Die Chronologie der Ereignisse Anfang 1990 widerspricht nach Lozos Verständnis ebenfalls der These, die Sowjetunion habe der Wiedervereinigung nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die NATO auf eine Erweiterung verzichten würde.

Dass Gorbatschow am 10. Februar 1990 Bundeskanzler Kohl offenbarte, die Sowjetunion werde der deutschen Einheit grundsätzlich zustimmen, steht nach Auffassung des Historikers Lozo in keinem kausalen Verhältnis zu Bakers Aussage vom 9. Februar 1990, wonach es keine NATO-Osterweiterung geben werde. Lozos Begründung liest sich im Interview mit der „Welt“ so: „Am 26. Januar, also zwei Wochen zuvor, hatte Gorbatschow in einer Geheimsitzung mit seinem engeren Kreis die DDR abgeschrieben und die Zweistaatlichkeit aufgegeben.“

Historische Desorientierungsphase

Zur chronologischen Beweisführung gehört für Historiker Lozo auch eine Bewertung der substanziellen Qualität des jeweiligen Verhandlungsschritts. So seien in den ersten Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer politische Positionen vertreten worden, die bereits kurze Zeit später revidiert worden seien. Lozo spricht von einer „Desorientierungsphase aufgrund der Wucht dieses Jahrhundertereignisses“.
Auch nachfolgende Äußerungen der Diplomaten während der Sondierungsphase der Zwei-plus-Vier-Gespräche, die am 21. März 1990 einsetzte, hätten „null Relevanz bezüglich der Verbindlichkeit“ gehabt. „Erst am 5. Mai 1990 wurde es relevant mit der Verhandlungsphase“, ordnet Lozo ein. Für diese Verhandlungsphase gilt: Äußerungen, die als Versprechen auf einen NATO-Erweiterungsverzicht gedeutet werden könnten, sind nicht bekannt.

Wörners Garantie geht nicht über Deutschland hinaus

Die – von Putin 2007 in München zitierte – Äußerung des damaligen NATO-Generalsekretärs Wörner vom 17. Mai 1990 fällt zeitlich in die relevante Verhandlungsphase. Allerdings bezieht sich die von Wörner abgegebene Garantie, „NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren“ (Putin), eindeutig auf das Gebiet der DDR, wie Hannes Adomeit im „Arbeitspapier Sicherheitspolitik“ (3/2018) der Bundesakademie für Sicherheitspolitik dargelegt hat: „Wörner versicherte, dass NATO-Truppen nicht ‚jenseits des Gebiets der Bundesrepublik‘ stationiert würden, wobei klar ist, dass es um den östlichen Teil Deutschlands ging, nicht um ehemalige Mitglieder des noch existierenden Warschauer Pakts.“ Die militärischen Strukturen des Warschauer Pakts wurden am 31. März 1991, das Bündnis selbst wurde am 1. Juli 1991 aufgelöst.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick