Diese Luftaufnahme zeigt den Marinestützpunkt Kiel während der Kieler Woche. Foto: Bun-deswehr/Martin Steffens

Diese Luftaufnahme zeigt den Marinestützpunkt Kiel während der Kieler Woche. Foto: Bun-deswehr/Martin Steffens

09.12.2022
Von Henrik Schilling

Die Schattenseite eines Schweizer Taschenmessers

Der Spagat der Deutschen Marine zwischen LV/BV und Krisenmanagement im Mittelmeer

Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine neue sicherheitspolitische Ära in Europa eingeläutet. Frieden und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit mehr und das globale Völkerrecht wird mit Füßen getreten. Neu ist das Verhalten Russlands allerdings nicht. Schließlich waren der Krieg in Georgien 2008 und nicht zuletzt die völkerrechtswidrige Annexion der Krim-Halbinsel 2014 Vorboten des russischen Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022.

„Nicht während unserer Wache“: Das Bekenntnis des Inspekteurs der Deutschen Marine, mit allen Mitteln für den Schutz des eigenen Landes und den der Ostseeanrainer einzustehen, war deutlich. Und es waren mehr als nur leere Worte – die Marine bewies mit der Entsendung mehrerer dutzend Einheiten in die Ostsee als direkte Reaktion auf den Kriegsausbruch, dass sie in der Lage ist, unmittelbar auf Gefahren zu reagieren. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein Einsatz dieser Größenordnung selbst unter Friedensbedingungen nicht lange durchhaltefähig ist. Dafür fehlt es an Material, Munition und Personal. Dazu kommen die politischen Erwartungen an die kleinste deutsche Teilstreitkraft, welche die Marine selbst zuweilen an ihre Belastungsgrenze führen.

Dass sowohl die Marine als auch die Politik unmittelbar und deutlich auf den russischen Einmarsch reagiert haben, war trotzdem richtig. Schließlich kann und darf sich ein internationaler Akteur wie Deutschland außenpolitisch nicht isolieren und sicherheitspolitisch nach Gefühl agieren. In Zeiten multipler Krisen gilt es nicht nur die eigenen Werte zu verteidigen, sondern mit gutem Beispiel voranzugehen - vor allem, wenn man, wie die Bundesrepublik, auf ein stabiles globalisiertes System, freie Handelswege und eine intakte Umwelt angewiesen ist.

Bevorzugtes Mittel internationaler Diplomatie

Die Deutsche Marine nimmt mit ihrem internationalen Handeln in diesem Rahmen eine Vorbildfunktion ein. Als Schweizer Taschenmesser der Sicherheitspolitik ist sie aus politischer Sicht ein bevorzugtes Mittel internationaler Diplomatie und globalem Krisenmanagement. Dass sie diese Fähigkeiten zusätzlich zu ihrem Kernauftrag – der Landes- und Bündnisverteidigung - ausführen kann, beweist sie bei gleich mehreren Einsätzen. Nach Beendigung des Einsatzes bei ATALANTA befindet sich die Marine in acht internationalen Einsätzen oder einsatzgleichen Verpflichtungen, wobei sie bei sieben davon entweder dauerhaft oder sehr regelmäßig mit Einheiten vertreten ist. Der längste Einsatz ist dabei die Beteiligung mit mindestens einer Korvette an der 2006 initiierten MTF UNIFIL.

Die jüngste Ausnahme der sonst lückenlosen Beteiligung an der Task Force ist die Korvette „Erfurt“, welche durch die Umleitung zu Baltic Guard als Reaktion auf den russischen Angriff erst kurze Zeit später als ursprünglich geplant in Richtung Einsatzgebiet auslaufen konnte. Genau hieran lässt sich bereits der angekündigte Spagat der Marine zwischen LV/BV und Internationalen Krisenmanagementeinsätzen (IKM) erkennen. Es war zweifelsfrei richtig, eine „combat ready“ zertifizierte Einheit die militärische Präsenz in der Ostsee verstärken zu lassen. Die Tatsache, dass dies zu Lasten einer anderen Verpflichtung geschehen musste, zeigt nur zu deutlich, wie sehr die Marine „auf Kante“ genäht ist und ihr operative Reserven fehlen. Während die Maritime Task Force (MTF) UNIFIL als Reaktion auf den Libanon-Krieg den seeseitigen Schutz des Gebietes vor Schmuggel und bewaffneten Auseinandersetzungen übernimmt, wurden die Einsätze in der Ägäis und vor Libyen im Zuge der Flüchtlingskrise im Mittelmeer initiiert. Auch hier ist die Marine nahezu durchgehend mit jeweils mindestens einer Einheit im Einsatz – in der Ägäis nimmt sie sogar eine Führungsrolle ein, weshalb hier dauerhaft eine große Einheit gebunden ist.

Besonders an SOPHIA und der Nachfolgeoperation IRINI zeigt sich deutlich, dass ein Schweizer Taschenmesser zwar vieles kann, aber nicht immer für alles das sinnvollste Werkzeug ist. So befanden sich unter den ersten Einheiten bei SOPHIA in den Jahren 2015 und 2016 mehrere deutsche Minenjagdboote. Dass diese allerdings keine einzige Mine räumen, dafür aber hunderten sich in Seenot befindenden Menschen gegenüberstehen würden, war von vornhinein klar. Die Boote wurden nicht etwa aufgrund ihrer Fähigkeiten für den Einsatz ausgewählt, sondern aufgrund des Mangels an verfügbaren Einheiten, die schnell genug auf die politischen Vorgaben aus Berlin hätten reagieren können.

Klarstand und Ausbildung leiden

Der Professionalität und dem Einsatzwillen der Besatzungen ist es daher zu verdanken, dass tausenden Menschen das Leben gerettet werden konnte. Bezeichnend ist dabei bis heute ein deutsches Minenjagdboot, dass mit einer Stammbesatzung von 40 Personen, über 700 Flüchtlinge zeitgleich aus Seenot gerettet und an Bord genommen hat. Nicht nur die Ausbildung der Besatzungen, auch der technische Klarstand der Einheiten leiden unter solchen Einsätzen allerdings enorm und müssen im Anschluss zeitintensiv wiederhergestellt werden. Lange Ausfallzeiten sind daher leider eher die Regel, denn die Ausnahme.

Dass sich Deutschland an solchen Einsätzen beteiligt, ist grundsätzlich richtig, plädiert der Autor schließlich noch zu Beginn des Artikels für ein stärkeres internationales sicherheitspolitisches Engagement. Allerdings stellen sich dabei drei Fragen. Erstens: Was genau möchte Deutschland außen- und sicherheitspolitisch erreichen? Zweitens: Was kann die Marine leisten und worauf sollte sie sich gegebenenfalls konzentrieren? Und drittens: Gibt es Exit Strategien für Einsätze, die sie nicht leisten kann, bzw. können diese von anderen Akteuren übernommen werden?

Führungsrolle in der NATO

Das Stichwort ist hier, wie so häufig in letzter Zeit, die Zeitenwende. Sie ist die Ursache für die Anpassung sicherheitspolitischer und vor allem gesellschaftlicher Strukturen in Deutschland und Europa. Für die Bundeswehr bedeutet sie laut Aussage des BMVg im Rahmen der Ankündigung der neuen Sicherheitsstrategie, eine stärkere Ausrichtung auf die Landes- und Bündnisverteidigung und das Übernehmen einer Führungsrolle in der NATO. Deutschland solle ein „militärisch[r] Anlehnungspartner in Europa“ werden. Trotz des verstärkten Fokus auf LV/BV solle die Bundeswehr allerdings „weiterhin einen angemessenen Beitrag zu Aufgaben auf dem Gebiet der internationalen Krisenprävention und des Krisenmanagements leisten.“

Da sich die nationale Sicherheitsstrategie noch in der Ausfertigung befindet, kann nur gemutmaßt werden, was mit einem angemessenen Beitrag gemeint ist. Darüber hinaus soll die Bundeswehr auch auf diplomatisch-strategischem Weg internationale Partnerschaften aufbauen. Deutschland möchte also ein stärkerer und verlässlicherer sicherheitspolitischer Akteur im europäischen aber auch internationalen Rahmen werden. Hinsichtlich der bereits vorgestellten Einsätze der Marine lesen sich diese Vorgaben wie folgt: Die IKM Einsätze im Mittelmeer sollten fortgeführt, die Beteiligung an den vier NATO Verbänden verstärkt und internationale Einsätze wie das Indopacific Deployment intensiviert werden. Operationen wie Baltic Guard oder nationale Einsätze zur Landesverteidigung kommen entsprechend der Fokussierung auf LV/BV noch hinzu.

Eigene „Arithmetik“

Die Aufgaben für die Marine sind also nicht neu. Es ist allerdings das ambivalente Verhältnis zwischen der Zahl an Einsatzverpflichtungen und der Menge verfügbarer Einheiten und Besatzungen, welches für die Marine zum Problem wird. Nach der klassischen „Marine Arithmetik“ stehen jeweils ein Drittel der vorhandenen Einheiten für Einsätze zur Verfügung, befinden sich in der Einsatzausbildung oder im Werftbetrieb. Das bedeutet, der Marine stehen, abgesehen von den Marinefliegern, maximal vier Fregatten, etwa zwei Korvetten, ein Einsatzgruppenversorger, drei bis vier Minenjagdboote und zwei U-Boote zur Verfügung. Soll das Ziel erreicht werden, mindestens eine Einheit bei jedem der vier stehenden NATO Verbänden zu stationieren, halbiert sich die Anzahl der verfügbaren Minenjagdboote und Fregatten. Jeweils mindestens eine Einheit bei IRINI, UNIFIL und gegebenenfalls in der Ägäis verringert das Kontingent weiter.

Das stärkere internationale Engagement, welches nach derzeitigen Planungen aus einer Fregatte und einem Einsatzgruppenversorger zur Standzeitoptimierung besteht, komplettiert die momentan angedachten langfristigen Einsatzräume der Marine. Kurzfristige Einsätze wie die gerade beendete Entsendung einer Fregatte zu einem Trägerverband in den Atlantik, Einsätze im Rahmen der Amtshilfe, wie bei der Untersuchung der North Stream Pipelines oder das Überwachen russischer Einheiten in der Ostsee sind dabei noch nicht mit einberechnet. Dafür stünden nach obiger Rechnung gerade einmal etwa drei Einheiten zur Verfügung. Zwar bietet diese Auflistung nur eine grobe Übersicht, die in beide Richtungen variabel verändert werden kann. Doch gerade die starke Beanspruchung der Marine in den vergangenen Jahren und der damit einhergehende höhere Verschleiß sprechen auf Dauer eher für eine niedrigere Verfügbarkeit. Hinzu kommt, dass das „Ausschwitzen“ von Einheiten naturgemäß zu Lasten der Einsatzausbildung geht. Mittelfristig leidet so nicht nur der technische Klarstand, sondern insgesamt die maritime Wehrfähigkeit Deutschlands.

Klare Ausrichtung auf LV/BV

Diese Zahlen zeichnen ein nüchternes Bild. Bei einer Beibehaltung aller aktueller Verpflichtungen kann die Marine ihren Kernauftrag, den Schutz eigener Hoheitsgewässer in der Ost- und Nordsee, sowie einen signifikanten Beitrag am Schutz der Nordflanke, nicht nachhaltig gewährleisten. Würden die politischen Erwartungen noch ausgeweitet, liefe Deutschland Gefahr, sein eigenes maritimes Hoheitsgebiet nicht mehr adäquat schützen zu können. Um das zu verhindern, bereitet sich die Marine schon seit einiger Zeit auf eine Stärkung der LV/BV vor und auch die politischen Vorgaben sind spätestens seit Februar diesen Jahres klar auf diesen Bereich ausgerichtet.

Um den aktuellen sicherheitspolitischen Anforderungen gerecht zu werden, muss die Marine also entweder stark anwachsen oder, kurzfristig umsetzbar, ihre Teilnahme an IKM-Missionen reduzieren. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch die Europäische Union die Relevanz des Maritimen Raumes erkannt hat. Die Maritimen Strategiepapiere der Union von 2014 und 2018 deuten darauf hin, dass die EU hier in Zukunft selbstbewusster auftreten möchte. Eine Reduzierung Deutscher Beteiligung an IKM-Operationen stünde in dieser Konstellation der Deutschen Führungsrolle in Europa entgegen.

Exit-Strategie muss klar sein

Dabei schließt sich außerdem die dritte der Fragen an. Anders als die NATO-Verbände, sind IKM-Einsätze meist auf ein Jahr befristet mandatiert. UNIFIL dauert aber nun bereits 16 Jahre und auch IRINI als Nachfolger von SOPHIA wird bis heute fortgeführt. Diese Praxis wirft die Frage nach einer Exit-Strategie auf. Während die Mandate deutlich beschreiben, was die jeweiligen Einsätze erreichen sollen, definieren sie kein eindeutiges Szenario, das zu einer Beendigung des Einsatzes führt. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat zwar in Resolution 2433 aus 2018 den Libanon damit beauftragt, einen Plan zur Stärkung seiner maritimen Fähigkeiten aufzustellen, um die Aufgaben der MTF an die nationale Marine zu übergeben. Allerdings ist die Libanesische Regierung dieser Aufforderung bis zur letzten Mandatserweiterung im Jahr 2022 noch nicht nachgekommen.

Und auch die Lage in Libyen lässt keine Stabilisierung erwarten, die eine Einstellung von IRINI rechtfertigen würde. Ganz im Gegenteil kann davon ausgegangen werden, dass nicht zuletzt die Zunahme der Auswirkungen des Klimawandels in Afrika noch mehr Menschen zur Flucht treiben und zu weiteren politischen Spannungen führen wird. Die Bundestagsmandate für oben bezeichnete Einsätze lassen leider allesamt einen national definierten „desired endstate“ vermissen – das macht es Deutschland sehr schwer, sich gesichtswahrend ersatzlos aus diesen Einsätzen herauslösen. Auf europäischer Ebene lassen sich die übergeordneten Ziele der Union zwar aus der europäischen Sicherheitsstrategie wie dem Strategic Compass von 2022 herauslesen.

Allerdings verhindert die zuweilen ineffiziente Mandatierung ein kurz- bis mittelfristiges Erreichen dieser „end states“. So hat ATALANTA beispielsweise gezeigt, dass Piraterie erst effizient bekämpft werden konnte, nachdem im Laufe der Zeit Mandatsanpassungen zugunsten eines ganzheitlicheren Ansatzes durchgeführt wurden. So ist der Rückgang der Piraterie vor Somalia nicht ausschließlich auf den Einsatz europäischer Marinen zurückzuführen. Die Erfolge resultieren vielmehr aus einem Zusammenspiel zwischen Regulierungen zum besseren Schutz von Handelsschiffen und landbasierten Stabilisierungsoperationen, sowie dem Wirken im Maritimen Raum. Übertragen auf einen Einsatz wie IRINI konstituiert das die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den relevanten Mitteln für die realistisch zu erreichenden Ziele. Beispielsweise hat sich bereits bei SOPHIA gezeigt, dass Marineeinheiten nicht gegen Schlepper wirken können, die ausschließlich von Land aus operieren. Um ein „desired end state“, nämlich die Unterbindung illegalen Menschenschmuggels, zu erreichen, muss also beispielsweise auch eine landbasierte Kooperation mit Libyen stattfinden.

Amerikanische Coast Guard könnte Vorbild sein

Eine mögliche kurz- bis mittelfristige Alternative zur Entlastung der Deutschen Marine zeichnet sich am Horizont allerdings bereits ab. Die neuen Einheiten der „Potsdam“-Klasse würden es der Bundespolizei ermöglichen, auch außerhalb ihrer Hoheitsgewässer Küstenwache-Aufgaben zu übernehmen. Ähnlich wie die amerikanische Coast Guard könnten diese Einheiten dann zur Embargokontrolle, Verhinderung von Schmuggel, Ausbildung und gegebenenfalls sogar Pirateriebekämpfung eingesetzt werden. Die Befähigung für dieses Einsatzspektrum wurde beim Bau der neuen Einheiten mitgedacht. So haben diese die Fähigkeit zur Einschiffung von Helikoptern und Schnellbooten, sowie Spezialkräften zum Boarding anderer Schiffe. Das 57mm Bordgeschütz und zwei M3 Maschinengewehre bieten den (bald) vier Einheiten sowohl die offensiven als auch defensiven Fähigkeiten, die für solche Einsätze benötigt werden. Darüber hinaus ist auch die Diskussion um eine europäische Küstenwache oder „European Auxiliary Navy“ ein relevanter und zeitgemäßer Ansatz zur Bewältigung aktueller Krisen und zeitgleichen Entlastung nationaler Marinen.

Und auch wenn die Marine mit den Projekten der 126er Fregatten und dem zweiten Los an Korvetten in den nächsten Jahren über neue Einheiten verfügen wird, so stellen diese keinen politischen Freibrief dar, das Aufgabenspektrum erneut anwachsen zu lassen. Zwar bringen die Einheiten eine Entlastung mit sich, allerdings sind im Jahr 2030, wenn also die ersten 126er voraussichtlich einsatzfähig sein werden, die Fregatten der Brandenburg Klasse bereits 36 Jahre alt und befinden sich damit nahezu am Ende ihrer Dienstzeit, die durch Modernisierungen der taktischen Radar- und Feuerleitanlagen bis 2035 verlängert werden soll. Sollten die politischen Vorgaben an die Marine also weiterhin auf dem momentan zu erwartenden Niveau für die kommenden Jahre bleiben, müssen ihre Fähigkeiten entweder signifikant wachsen oder andere, wie die hier diskutierten, Lösungen zur Entlastung gefunden werden. Es gilt dann auf politischer Ebene das eigene Schweizer Taschenmesser behutsam einzusetzen und entsprechend zu pflegen, damit es die eigenen Vorstellungen nachhaltig erfüllen kann.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick