"Brot, Arbeit und Freiheit!" riefen etwa 40 afghanische Frauen am 13. August 2022 im Zentrum der Hauptstadt Kabul. Doch dann erschienen Taliban-Kämpfer, schossen in die Luft und lösten den Protest der Frauen gewaltsam auf. Foto: Oriane Zerah/ABACAPRESS.

15.08.2022
dpa/Frank Schauka

Ein Jahr nach der Flucht aus Afghanistan: Innenministerin Faeser sichert Ortskräften Beistand zu

Gewalt und Hunger sind in Afghanistan wieder an der Tagesordnung, seitdem die Taliban die Macht in dem Land am Hindukusch im August 2021 an sich rissen. Frauenrechte und Pressefreiheit gelten seither nicht mehr. In Lebensgefahr sind Menschen, die für die Bundeswehr sowie deutsche Behörden und Organisationen gearbeitet hatten. Die Bundesregierung will diesen sogenannten Ortskräften nun neue Hoffnung machen.

Berlin. Ein Jahr nach der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban an die Macht hat die Bundesregierung allen einst für deutsche Stellen arbeitenden Ortskräften versichert, dass sie Afghanistan noch verlassen können. «Wir lassen die afghanischen Ortskräfte nicht zurück», schrieb Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Sonntag auf Twitter.

Auch Außenministerin Annalena Baerbock beklagte die Leiden der Menschen seit dem Machtwechsel. «Seither hat sich die Herrschaft der Taliban wie ein dunkler Schleier über Afghanistan gelegt», sagte die Grünen-Politikerin am Sonntag in Berlin über das vergangene Jahr seit der Machtübernahme. «Für Frauen und Mädchen bedeutet dies ein Leben wie im Gefängnis.» Die internationale Gemeinschaft habe nach Beendigung des Militäreinsatzes nun eine Verantwortung für die afghanische Zivilgesellschaft.

Noch immer warten mehrere Tausend Menschen auf ihre Ausreise aus dem Land, in dem Gewalt und Hunger herrschen, grundlegende Rechte von Frauen eingeschränkt sind und Journalisten verfolgt und eingeschüchtert werden. Für den Jahrestag der Machtübernahme am Montag, 15. August, riefen die Taliban einen Feiertag aus - für sie symbolisiert er den «Sieg» über die USA und deren Verbündete.

Die Umstände des chaotischen Abzugs der westlichen Streitkräfte - und damit auch der Bundeswehr - aus Afghanistan beschäftigen künftig auch den Deutschen Bundestag. Am 8. Juli dieses Jahres setzte er nach zum Teil kontroverser Debatte einen Untersuchungsausschuss ein, der die Schlussphase des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr aufarbeiten soll.

DBwV-Bundesvorsitzender Oberst André Wüstner als Experte in Enquetekommission des Bundestags

Wenige Stunden später beschloss der Bundestag zudem die Einsetzung einer Enquetekommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“, die nicht nur die Schlussphase, sondern die gesamten 20 Jahre des Engagements der Bundeswehr am Hindukusch in den Blick nehmen soll. Der Enquetekommission gehört auch der Bundesvorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberst André Wüstner, als Experte an.

Die Taliban konnten im August 2021 ohne bedeutende Gegenwehr der afghanischen Streitkräfte das Land rasch unter ihre Kontrolle bringen. Vorangegangen war der Abzug der NATO-Truppen. Nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15. August 2021 erfolgte ein internationaler militärischer Evakuierungseinsatz, an dem sich auch Deutschland mit der Bundeswehr beteiligte. Am Flughafen der Hauptstadt Kabul spielten sich dramatische Szenen ab, als viele Menschen das Land verlassen wollten.

15.759 afghanische Ortskräfte wurden bisher nach Deutschland geholt

Bislang seien 15.759 afghanische Ortskräfte und Familienangehörige nach Deutschland geholt worden, sagte Faeser der «Bild am Sonntag». Sie nannte keine genaue Zahl, für wie viele weitere Menschendie Ausreise noch geplant ist. Die Ortskräfte arbeiteten früher beispielsweise als zivile Helfer für die Bundeswehr oder als Dolmetscher.

Nach Angaben aus der vergangenen Woche sicherte Deutschland seit dem Abzug der NATO-Truppen insgesamt 23.614 Ortskräften und Angehörigen die Aufnahme zu. Betroffen sein dürften also noch mehr als 7800 Menschen. Die Ausreisen gehen derzeit aber langsamer voran als geplant. Die Bundesregierung macht dafür auch die militanten Islamisten verantwortlich, die die Ausreisen behinderten.

Kein Land hat die De-facto-Regierung der Taliban bisher anerkannt. Die Taliban hätten es versäumt, ein inklusives politisches System zu errichten, und damit die Bestrebungen des afghanischen Volkes missachtet, sagte EU-Kommissionssprecherin Nabila Massrali. Sie beklagte schwere Verstöße gegen die Rechte von Frauen und Mädchen.

Taliban greifen Afghaninnen an, die für ihre Rechte demonstrieren

In den vergangenen Tagen gingen in Afghanistan Frauen vermehrt auf die Straße, um die Einschränkungen ihrer Rechte auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit anzuprangern. Mit Warnschüssen lösten die Taliban am Samstag einen friedlichen Protest von Dutzenden Frauen für Essen, Arbeit und Freiheit in Kabul auf. Auf Aufnahmen in sozialen Medien war zu sehen, wie Taliban Schüsse abgaben und Frauen körperlich angriffen.

Ebenfalls am Samstag wurden bei der Explosion einer an einem Motorrad befestigten Bombe im Westen Kabuls vier Menschen verletzt, darunter auch zwei Taliban, wie ein Sicherheitsbeamter dem Sender Tolo News sagte. Unklar war zunächst, wer für den Zwischenfall verantwortlich war. In dem Land verübt unter anderem das mit den Taliban verfeindete Terrornetzwerk Islamischer Staat immer wieder Anschläge.

UN-Kinderhilfswerk beklagt katastrophale Versorgungslage

Das UN-Kinderhilfswerk Unicef beschreibt die Versorgung in dem Land als katastrophal und beklagt eine massive Unterfinanzierung der Hilfe für die Bevölkerung. «Über eine Million Kinder sind lebensgefährlich mangelernährt», schrieb der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, im «Kölner Stadt-Anzeiger».

Faeser: «Abschiebungen nach Afghanistan sind derzeit auf Eis gelegt»

Mit Verweis auf die Lage im Land versicherte Innenministerin Faeser, dass es auf absehbare Zeit keine sogenannten Rückführungen aus Deutschland nach Afghanistan geben werde. «Die Abschiebungen nach Afghanistan sind derzeit auf Eis gelegt - und das wird angesichts der aktuellen Situation dort sicher auch so bleiben müssen», sagte sie der «Bild am Sonntag».

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte die Bundesregierung auf, im Koalitionsvertrag festgehaltene Vorhaben wie die Reform des Ortskräfteverfahrens und ein humanitäres Aufnahmeprogramm umzusetzen. Auch müssten humanitäre Visa kontinuierlich erteilt und der Familiennachzug beschleunigt werden. «Jeder Tag des Wartens ist ein Tag in Lebensgefahr für die betroffenen Menschen», warnte Geschäftsführer Günter Burkhardt. Faeser sagte im «BamS»-Interview, sie arbeite mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) an dem Aufnahmeprogramm.

Journalist aus Deutschland von Taliban festgenommen

Unter der Taliban-Herrschaft leben Journalisten deutlich gefährlicher als schon zuvor. Am Samstag wurden etwa im Zuge der Frauenproteste ein afghanischer und drei ausländische Journalisten, darunter auch aus Deutschland, festgenommen. Nach mehr als vier Stunden seien sie wieder freigekommen, sagte ein Sprecher des Verbandes unabhängiger Journalisten in Afghanistan (AIJA) der Deutschen Presse-Agentur. Die Organisation Reporter ohne Grenzen beklagte, gut ein Drittel der bis zum 15. August 2021 rund 550 aktiven Medien im Land seien eingestellt worden. Die Zahl der Journalistinnen und Journalisten, die in den Medien arbeiteten, sei um mehr als die Hälfte auf rund 4750 gesunken - Frauen seien besonders betroffen.

«Der Journalismus in Afghanistan blutet aus», sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, laut einer Mitteilung vom Freitag. Mihr verwies auf Gesetze, die die Pressefreiheit einschränkten und die Verfolgung und Einschüchterung von Medien sowie Journalistinnen und Journalisten begünstigten. Seit August 2021 seien mindestens 80 Medienschaffende für unterschiedlich lange Zeiträume und teils «auf sehr brutale Weise» festgenommen worden. Auf einer «Rangliste der Pressefreiheit» steht Afghanistan auf einem der letzten Plätze: auf Platz 156 von 180 Staaten.

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