Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von "furchtbaren" und "bitteren " Entwicklungen in Afghanistan. Foto: picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von "furchtbaren" und "bitteren " Entwicklungen in Afghanistan. Foto: picture alliance/dpa | Michael Kappeler

25.08.2021
Yann Bombeke/dpa

Breite Mehrheit im Bundestag für Evakuierungsmission

Die Evakuierungsmission der Bundeswehr in Afghanistan wird wohl in wenigen Tagen enden. Jetzt stimmte der Bundestag in einer Sondersitzung dem Einsatz nachträglich zu. In einer Regierungserklärung sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer „Tragödie“, die sich am Hindukusch abspielt.
 
Mehr als eine Woche nach dem Beginn der Evakuierungsmission der Bundeswehr auf dem Flughafen von Kabul hat der Bundestag nachträglich der Entsendung von bis zu 600 Soldatinnen und Soldaten zugestimmt. Für das bis zum 30. September befristete Mandat stimmten 539 Abgeordnete, 9 stimmten dagegen, 90 enthielten sich. Damit erhält die Bundeswehr rechtliche Sicherheit für den schwierigen Einsatz.

Zuvor war in der Sondersitzung des Bundestages über Evakuierungsmission, aber auch über die Umstände des Endes des Afghanistan-Einsatzes debattiert worden. In ihrer Regierungserklärungserklärung sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass man nun Zeuge „furchtbarer menschlicher Dramen“ werde. „Die Entwicklungen der letzten Tage sind furchtbar, sie sind bitter“, sagte Merkel. Für viele Menschen in Afghanistan seien sie eine „einzige Tragödie“. Die Situation sei aber auch bitter für die Verbündeten, die sich 20 Jahre lang in Afghanistan engagiert haben. „Meine Gedanken sind bei den Soldatinnen und Soldaten der Verbündeten, die den Einsatz mit ihrem Leben bezahlt haben, unter ihnen 59 Deutsche“, sagte die Kanzlerin. Merkel erinnerte auch an jene, die im Einsatz bleibende Verletzungen an Leib und Seele davongetragen hätten.

Merkel betonte, dass alle Beteiligten – Deutschland wie auch seine Verbündeten – die Entwicklungen der vergangenen Wochen und Monate in Afghanistan unterschätzt hätten. „Unterschätzt haben wir, wie umfassend und im Ergebnis wie atemberaubend schnell de afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Truppenabzug ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben würden beziehungsweise dass sie einen solchen Widerstand gar nicht erst aufnehmen würden.“

Deutschland habe keinen Alleingang gemacht, sondern immer gemeinsam mit den Verbünbeten gehandelt. Die Kanzlerin betonte, dass Deutschland unter den ersten war, die mit militärischen Kräften zur Evakuierung gefährdeter Menschen vor Ort in Kabul eingetroffen sind. „Seit Montag vergangener Woche steht die Luftbrücke – sie ist bereits jetzt die größte Evakuierungsoperation in der Geschichte der Bundeswehr.“ Mehr als 4600 Menschen seien bislang in Sicherheit gebracht worden, davon fast die Hälfte Frauen. Merkel sprach den Soldatinnen und Soldaten sowie den Bundespolizisten ihren Dank aus für „Professionalität und Ausdauer“.

Das "Dilemma" mit den Ortskräften

Mit Blick auf die afghanischen Ortskräfte, die wohl nicht alle herausgeholt werden können, sprach Merkel von einem „Dilemma“: „Stellen wir uns einen Moment vor, Deutschland hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundeswehr begonnen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitarbeitern und Ortskräften deutscher Hilfsorganisationen.“ Die Kanzlerin weiter: „Manche hätten dies sicher als vorausschauende Vorsicht gewürdigt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen werden.“ Beide Sichtweisen hätten ihre Berechtigung.

Die Bundesregierung habe damals sehr gute Gründe dafür gesehen, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zu helfen – „ganz konkrete Basishilfe von Geburtsstationen bis zur Wasser- und Stromversorgung“, sagte Merkel. Im Nachhinein sei es leicht, die Situation zu analysieren und zu bewerten. „Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos“, sagte die CDU-Politikerin. Doch die Entscheidung habe in der damaligen Situation getroffen werden müssen. Jetzt konzentriere man sich „mit ganzer Kraft“ auf die Evakuierungsflüge.

Wenn man über den Abzugstermin hinaus – die USA planen, ihre letzten Kräfte zum 31. August aus Afghanistan abzuziehen – den Afghanen helfen wolle, komme man nicht an den Taliban vorbei, sagte die Kanzlern. „Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan. Diese neue Realität ist bitter, aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen“, sagte Merkel. Und: „Das Ende der Luftbrücke in einigen Tagen darf nicht das Ende der Bemühungen bedeuten, afghanische Ortskräfte zu schützen und jenen zu helfen, die durch den Vormarsch der Taliban in noch größere Not geraten sind.“  

Merkel gab sich überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft trotz der rasanten Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan auch Gutes bewirkt habe. Das Ziel von 2001 habe man erreicht: Von Afghanistan aus seien seitdem keine internationalen Terroranschläge mehr ausgegangen – „ein bleibendes Verdienst unserer Soldatinnen und Soldaten, dafür gebühren ihnen der Dank und die Anerkennung unseres Landes“.

Enquetekommission oder Untersuchungsausschuss?

In der anschließenden Debatte versprach SPD-Fraktionschef, dass man die Geschehnisse „schonungslos“ aufklären werde. Dafür warb er für den Einsatz einer Enquetekommission nach der Bundestagswahl am 26. September. „An vorderster Stelle steht, einen neuen Bürgerkrieg in Afghanistan zu verhindern“, betonte der Sozialdemokrat. Dafür müsse man auch mit den Nachbarstaaten Afghanistans sprechen, Iran eingeschlossen.

Die Oppositionsparteien fordern statt einer Enquetekommission einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.  „Wir müssen Ursache und Wirkung der Ereignisse analysieren, die politische Verantwortung muss zugeordnet werden, personelle Konsequenzen müssen folgen“, sagte etwa FDP-Chef Christian Lindner. Zudem sprach sich Lindner für eine gemeinsame europäische Afghanistan-Politik aus. Er forderte die Bundeskanzlerin auf, sich für einen EU-Sondergipfel einzusetzen.

Für einen Untersuchungsausschuss sprach sich auch Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock aus. Wenn der Deutsche Bundestag seiner Verantwortung gerecht werden wolle, dann müsse er „dieses Desaster jetzt aufklären und nicht schönreden“, sagte Baerbock. Das Parlament sei den Menschen in Afghanistan und allen nun von der Krise Betroffenen „schuldig, zu sagen, wo die Fehler gelegen haben“.

Einen Untersuchungsausschuss forderte auch der Linken-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch.  Es sei „kurzsichtig, kaltherzig und verantwortungslos“ gewesen, die Ortskräfte nicht früher aus Afghanistan geholt zu haben. Der Bundeskanzlerin warf Bartsch vor, den Krieg von der rot-grünen Vorgängerregierung geerbt, jedoch zu wenig unternommen zu haben, um ihn zu beenden.

Die AfD forderte, über die bekannten Ortskräfte und ihre Angehörigen hinaus keine weiteren Afghanen in Deutschland aufzunehmen. Der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland bezeichnete den Afghanistan-Einsatz insgesamt als Fehler. Die Bundeswehr habe im Ausland nichts zu suchen, es sei denn, deutsche Interessen seien betroffen, wie bei der Pirateriebekämpfung.

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