Fehlendes Schnittmuster für die Integration
Der Textilbranche im Osten Deutschlands gehen die Fachkräfte aus. Um die Lücken zu füllen, setzen die Unternehmen auf ausländische Mitarbeiter. Dabei gilt es manche Hürde zu nehmen.
Großröhrsdorf/Bautzen - Ein bisschen erinnert die Arbeit an Plätzchenausstechen. Immer wieder legt Abdul Maruf Tajik eine längliche Form auf den militärgrünen Lederzuschnitt. Dann lässt der Mitarbeiter der Thieme-Gruppe in Großröhrsdorf (Kreis Bautzen) langsam die Stanze nach unten. «Das sind Teile für Bundeswehr-Hosenträger», sagt der 38-jährige Afghane. Seit knapp zwei Jahren arbeitet er bei dem sächsischen Textilmittelständler. Für ihn und seinen Chef Andreas Thieme ist es eine Win-Win-Situation. Für den Flüchtling bedeutet sie Arbeit, für den Unternehmer, dass er an einem wichtigen Arbeitsplatz die Produktion fortsetzen kann.
Abdul Maruf Tajik legt wieder den «Ausstecher» auf das Leder. Mit seiner Frau und den Kindern kam er im Februar 2016 nach Deutschland. Geboren wurde er 1980 im Norden Afghanistans, aufgrund des Kriegs verließ er seine Heimat mit drei oder vier Jahren und ging mit seinen Eltern in den Iran. Nach seinem Schulabschluss arbeitete er in einer Schneiderei. Nun hofft er mit Hilfe des Großröhrsdorfer Unternehmers auf eine bessere Zukunft. Thieme führt in der vierten Generation den 1911 als Bandweberei gegründeten Betrieb.
Der Chef über 48 Mitarbeiter geht durch die Produktion. Neben den Bundeswehrhosenträgern entstehen im Neubau im Gewerbegebiet technische Textilien wie Gurtsysteme, Spezialkleidung für Feuerwehr sowie Unterwäsche für Damen, Herren und Kinder. «In den kommenden Jahren werden viele unserer Mitarbeiter in Rente gehen. Schon jetzt könnte ich fünf bis sechs weitere Leute anstellen. Einen Azubi bekomme ich erst wieder im kommenden Jahr», sagt der 44-Jährige. Wie ihm geht es zahlreichen Unternehmen der Textilbranche.
Nach Angaben des Verbands der Nord-Ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (vti) haben dessen Mitglieder derzeit 150 offene Stellen und 50 unbesetzte Lehrstellen gemeldet. Gleichzeitig spüre man, dass durch die gute Konjunktur der Umsatz und die Zahl der benötigten Mitarbeiter wachse, sagt vti-Hauptgeschäftsführer Jenz Otto. Auf der Suche nach Fachkräften geht es deshalb nach Europa und Asien. Ressourcen bieten auch Migranten, die bereits im Land sind.
Abdul Maruf Tajik und ein weiterer Mitarbeiter aus Afghanistan sind für Thieme ein solcher Glücksgriff. Doch bei der Arbeit mit Flüchtlingen musste er auch Lehrgeld zahlen. «Ende 2015 haben wir zuerst einen Syrer eingestellt. Schnell mussten wir bei ihm feststellen: Es fehlte an Pünktlichkeit, Ordnung und am Respekt gegenüber Frauen», sagt der Diplombetriebswirt. Nach einem halben Jahr trennten sich die Wege. Das Credo des «Pilotprojekts»: Die Flüchtlinge bereitet niemand weder auf Leben noch Arbeit - auf das Deutschland-Koordinatensystem - vor. Das Schnittmuster ist klar, die Gebrauchsanweisung zur Integrations-Blaupause fehlt aber.
Thiemes Mitarbeiter aus Afghanistan nimmt dagegen diese Hürden, um arbeiten zu können. «Aber», sagt er, «ganz einfach ist das nicht. Die Voraussetzung ist doch die Sprache. Ich habe nach unserer Ankunft gerade drei Stunden Deutschunterricht pro Woche bekommen», sagt der vierfache Familienvater. Seine sogenannte Aufenthaltsgestattung muss er alle sechs Monate erneuern lassen. Während dieser ein- bis zweiwöchigen Bearbeitungszeit darf er nicht arbeiten, obwohl er einen festen Arbeitsvertrag hat. «Und bei mir steht dann die Produktion still?», fragt sich Thieme. Er wünscht sich wie auch der vti Förderprogramme für die Eingliederung von Migranten in Unternehmen.
«Integrationsassistenten», sagt vti-Geschäftsführer Peter Werkstätter, «die Flüchtlinge durch den Behördendschungel begleiten.» Außerdem müsse gewährleistet werden, dass Auszubildende mit Migrationshintergrund nach dreijähriger Ausbildung nicht innerhalb der nächsten zwei Jahre abgeschoben werden dürften. Auch auf die schnelle Verabschiedung eines Fachkräftezuwanderungsgesetz hofft der Verband. Momentan kommen nach seinen Angaben bei den ostdeutschen Textilern höchstens bis zu fünf Prozent der Beschäftigten aus dem Ausland, die Mehrheit aus der EU.
Dabei lohnt sich der Blick über die Grenze nach Tschechien. Beim Unternehmen Bohemia Fashion in Nový Bor arbeiten seit drei Monaten vier Indonesier. «Begünstigend wirkt sich die Gesetzgebung im Land aus. Wenn wir Arbeitsplätze nicht mit Einheimischen besetzen können, können wir Ausländer einstellen», sagt Uwe Kruschwitz, Geschäftsführer des Konfektionsbetriebs. 35 Mitarbeiter zählt der Betrieb des Textilingenieurs, den er 1994 gründete.
Doch ostdeutsche Textilunternehmen setzen nicht nur auf Mitarbeiter aus dem Ausland. «Wir müssen wenigstens einen Teil der Berufspendler sowie Langzeitarbeitslose mit zielgerichteten Weiterbildungen zurückholen», sagt Werkstätter. Aus den Köpfen müsse zudem das Image des nach der Wende zu großen Teilen abgewickelten DDR-Industriezweigs. «Von den seinerzeit 320.000 Beschäftigten sind 16.000 Arbeitsplätze geblieben. Da rät keine Oma ihren Enkeln zum Beruf», sagt Otto.
Abdul Maruf Tajik dagegen hat bei der Thieme-Gruppe seinen Traumjob gefunden. «Die Arbeit ist mein fünftes Kind», sagt er und lässt die Stanze nach unten. Die Bundeswehr soll schließlich nicht auf die Hosenträger warten.