12.04.2021
dpa

«Ja, aber»: Ungewisse Zeiten für die afghanischen Sicherheitskräfte

In drei Wochen sollen die USA laut einem Abkommen mit den Taliban aus Afghanistan abziehen. US-Präsident Joe Biden wägt noch ab. Betroffen wäre auch die Bundeswehr vor Ort. Könnten sich die afghanischen Sicherheitskräfte einem Sturmlauf der Taliban ohne internationale Unterstützung widersetzen?

Kabul. Bald 20 Jahre bilden internationale Soldaten nun die afghanischen Sicherheitskräfte aus. Eine Sache haben sie ihnen bis heute nicht austreiben können: Kaum geht ein Gefecht los, stürmt der Kommandeur nach vorne. Und nein, nicht nur Kompaniechefs, sondern auch Brigadekommandeure, bis hinauf zu den Korps-Kommandeuren.

Ihre militärischen Berater aus den USA, Deutschland und anderen Nato-Ländern schütteln dann nur die Köpfe. «Sie sind sehr mutig», erinnert sich Oberst a.D. Ferdinand Baur, der drei Mal für die Bundeswehr in Afghanistan war. «Sie sind dann aber auch die ersten, die fallen.»

Bereits kurz nach der Vertreibung des Taliban-Regimes im Jahr 2001 begannen internationale Soldaten, die afghanische Polizei, Armee und den Geheimdienst aufzubauen und auszubilden. Das Ziel: Sie sollten so rasch wie möglich selbst ihr Land verteidigen können und Terrorgruppen wie Al-Kaida, wegen der die USA in Afghanistan nach 9/11 einmarschierten, einen sicheren Hafen verwehren. Ein Unterfangen, das ob der mit der Zeit immer stärker werdenden Taliban dem Versuch glich, ein Flugzeug während des Flugs zu reparieren.

Am 1. Mai könnten nun die USA und mit ihnen die Nato-Truppen inklusive Deutschlands aus Afghanistan abziehen. Das sieht der USA-Taliban-Deal vor, der noch unter US-Präsident Donald Trump mit den Islamisten ausgehandelt worden war. Die neue US-Regierung unter Joe Biden wägt noch ab, ob sie in der Tat ihre offiziell verbliebenen 2500 Soldaten nach Hause holt. Immer mehr Afghanen stellen sich nun die Frage, ob die eigenen Sicherheitskräfte das Land halten können.

Wenige trauen den Taliban, die sich in Friedensverhandlungen mit der Regierung für eine politische Teilung der Macht befinden. Sie befürchten, nach Abzug der internationalen Truppen könnten die Islamisten versuchen, doch das ganze Land gewaltsam zu übernehmen.

In offiziellen US-Berichten sind konkrete Aussagen zum Entwicklungsstand der afghanischen Streitkräfte heute oft als militärisches Geheimnis eingestuft. Was öffentlich ist, klingt zumeist nur vordergründig positiv. Einige Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte hätten sich jüngst verbessert, heißt es etwa in einem Bericht des US-Generalinspektors für den Wiederaufbau in Afghanistan (Sigar) vom März. Die Truppe stehe allerdings «immer noch vor langfristigen Herausforderungen in Bezug auf Fähigkeiten und Nachhaltigkeit». Diese würden «verschiedene Formen der fortgesetzten Unterstützung des US-Militärs» erfordern.

Deutlicher ist hier die Einschätzung des deutschen Verteidigungsministeriums, das aktuell bis zu 1100 Soldaten vor allem im Norden des Landes stationiert hat. Demnach sind die afghanischen Sicherheitskräfte «trotz aller Anstrengungen weiterhin noch nicht selbsttragend in der Lage, flächendeckend für Sicherheit zu sorgen».

Und die Anstrengungen waren in der Tat nicht gering. Abertausende Berater, militärische wie zivile, haben in den vergangenen zwei Dekaden versucht, die afghanischen Sicherheitskräfte zu einer schlagkräftigen Truppe auszubilden. «Ihr Erfolg scheint allerdings sehr unterschiedlich gewesen zu sein», sagt der Afghanistan-Analyst Andrew Watkins von der Denkfabrik International Crisis Group. Beim Aufbau der afghanischen Spezialeinheiten habe dies besser geklappt, bei regulären Truppen und Polizei weniger.

Oft hakte es an scheinbar Einfachem. Über Jahre torpedierten schlechte Übersetzungen die Bemühungen. Sie machten etwa die Konzepte der Berater unlesbar. Berühmt-berüchtigt ist die Übersetzung von «Feedback», bei der sich die Afghanen wunderten, was für einen Sinn es habe, vom Rücken oder von hinten zu essen. Die westlichen Konzepte wurden so oft von den Afghanen als für Afghanistan unbrauchbar entsorgt.

Beklagt wurde auch westliche Arroganz. Oft wurden die Afghanen als dumm abgestempelt, wenn sie nicht durch die mitgebrachte Ideologie formbar waren. Dass der afghanische Soldat aus einem Clansystem komme, durch einen Mullah vorgeprägt und ethnisch beeinflusst sei und somit eine andere Führung als ein Amerikaner oder Deutscher brauche, sei oft nicht beachtet worden, sagt Oberst a.D. Baur. «Da fehlte oft die interkulturelle Kompetenz.»

Heute sehen Experten vor allem die Spezialkräfte und auch die Luftwaffe (AAF) als die großen Erfolge an. Allerdings gibt es auch hier einen Haken: «Beide Elemente sind gerade aufgrund der intensiven Unterstützung durch die USA und die NATO stark», sagt der Experte Watkins. Die AAF sei leistungsfähiger als je zuvor, bleibe aber fast ausschließlich von ausländischen Vertragskräften abhängig, um die Flugzeuge zu warten und zu reparieren. Laut USA-Taliban-Deal müssen mit den regulären Soldaten auch die laut letzten verfügbaren Zahlen immer noch rund 18 000 verbliebenen Contractors abziehen, die viele Aufgaben mit und ohne Waffe übernehmen.

Die Liste an Schwächen ist länger. Laut dem Kommandeur der US- und Nato-Truppen in Afghanistan, General Austin Scott Miller, brauchen die Afghanen neben der Luftunterstützung die meiste Hilfe im Bereich Logistik. Bei dieser hapert es aufgrund der massiven Korruption. Nicht nur Generäle machen zu Geld, was sie finden können. Auch Einheiten in abgelegenen Gebieten erfinden gerne Angriffe und funken um dringenden Munitionsnachschub - um diesen dann am Schwarzmarkt zu verkaufen. Auch bei der Rekrutierung gebe es Probleme, heißt es aus Sicherheitskreisen. Und nicht zuletzt die horrenden Todesraten: Weiter kommen täglich Dutzende Sicherheitskräfte in Gefechten um.

Und was sagen die Afghanen selbst? Vertreter des Nationalen Sicherheitsrates, ein Ex-Geheimdienstchef, ein ehemaliger Innenminister, Bataillonskommandeure - sie alle sind der Meinung, dass die Streitkräfte die Gebiete, die die Regierung aktuell kontrolliert, halten können. Immerhin würden ja bereits seit dem USA-Taliban-Deal keine US-Kräfte mehr an Offensivoperationen gegen die Taliban teilnehmen. Man habe auch die Führung verbessert und kürzlich die Truppen im Land so verteilt, dass sie nicht mehr nur an den mittlerweile verlassenen US-Stützpunkten ausgerichtet sind.

Doch sie schieben ihrem «Ja, wir können das» eine Bedingung nach: dass sie weitere Unterstützung aus dem Ausland bekommen. Manchen reichen Gelder zur Finanzierung der Sicherheitskräfte. Andere sind unsicherer und fordern geheimdienstliche Unterstützung, Hilfen bei der Logistik oder aus der Luft. Oder alles zusammen. Die Optimisten unter ihnen stellen sich auf harte Gefechte ein, die Pessimisten auf noch höhere Opferzahlen. Jene Militärs, die auch die Politik mitdenken, befürchten aber etwas anderes: Dass nicht das Militär, sondern aufgrund der innenpolitischen Turbulenzen der Staat kollabieren könnte. Da helfe dann auch der ganze weiter hoch angesehene Mut der Kommandeure nicht.