Hans-Peter Bartels (r.) mit dem Bürgermeister von Borodjanka, Heorhii Yerko (M.), und dem Vertreter der Region Kiew-Land, Artem Husak. Foto: Fabian Schlüter

Hans-Peter Bartels (r.) mit dem Bürgermeister von Borodjanka, Heorhii Yerko (M.), und dem Vertreter der Region Kiew-Land, Artem Husak. Foto: Fabian Schlüter

11.03.2023
Von Hans-Peter Bartels

Auf der Route des Lebens im Nachtzug nach Kiew

Hans-Peter Bartels (SPD), Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) hat die Ukraine ein Jahr nach dem Beginn des Krieges besucht. Für unser Verbandsmagazin "Die Bundeswehr" schildert er seine Erfahrungen und berichtet von seinen Treffen mit den Menschen vor Ort.

In fünf Sprachen steht „Schlafwagen“ auf dem Waggon Nummer 3, in dem wir Plätze gebucht haben. Er sieht aus, als habe er schon zu österreichisch-ungarischen Zeiten Dienst getan. Ein Kohleofen heizt die Abteile, der Schaffner betreibt einen elektrischen Wasserkocher, mit dem er Tee aufgießt. Andere Getränke und Butterbrote haben wir selbst mitgebracht. Knapp 20 Stunden, einschließlich Grenzkontrolle und Umspuren, dauert die Fahrt im durchgehenden Expresszug vom Warschauer Ostbahnhof nach Kiew.

Man kann reisen. Aber Tickets sind kontingentiert. Denn die West-Trassen stellen gegenwärtig die einzige Verbindung der Ukraine zur Außenwelt dar. Im Norden, Osten und Süden ist das Land blockiert. Flüge gibt es seit einem Jahr überhaupt nicht mehr.

Warum diese Schienen und Straßen, diese Lebensadern in der Westukraine noch nicht von russischen Raketen, Marschflugkörpern, Drohnen und Bomben zerstört oder permanent angegriffen worden sind, scheint uns ein Mirakel zu sein. Schwer zu treffen, sagen später ukrainische Gesprächspartner. Aber schwer zu treffen sind auch die Kraftwerke, Umspannstationen und Rüstungsbetriebe, die Russland mit dumpfer Regelmäßigkeit bombardiert.

Vielleicht gibt es hier eine der wenigen Regeln hinter dem völkerrechtswidrigen, regellosen Zerstörungswerk Moskaus. Vielleicht eine massive Ansage aus Washington. Vielleicht höhere Einsicht im Kreml, dass man nie wissen kann, wer in einem Zug, den russische Raketen treffen oder der entgleist, gerade sitzt. Es könnte der spanische Außenminister sein oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder eine amerikanische Kongress-Delegation. Es kann also sein, dass der stete Strom von internationalen Besuchern die Nachschubwege schützt. Man weiß es nicht.

Während wir im Dunkeln auf irgendeinem Grenzbahnhof hin- und herrangieren, rattern Güterzüge in endloser Folge vorbei. Und als wir bei Tage aus dem Zugfenster auf eine der Fernstraßen blicken, reiht sich da ein Lastkraftwagen an den anderen. Gut zu hören, gut zu sehen, es rollt.

Burgfrieden

Der Zug ist pünktlich. Um 12.07 Uhr steigen wir am Hauptbahnhof aus. Unsere Partnerorganisation, das Transatlantic Dialogue Center, holt uns ab, junge Ukrainer, die auch zum Beispiel einen lesenswerten wöchentlichen Lagebericht auf Englisch veröffentlichen.

Zum Mittagessen in einem Restaurant mit georgischer Küche treffen wir zwei Parlamentsabgeordnete, eine von der Selenskji-Partei, eine von der Opposition. Was den Verteidigungswillen angeht, sind Maria Mezentseva und Solomiia Bobrovska absolut einig. In nationalen Überlebensfragen herrscht Burgfrieden. Innenpolitisch wird aber weiter kontrovers diskutiert, wie es in einer Demokratie sein muss.

Kriegsmuseum

Das Kiewer Weltkriegsmuseum ist jetzt erweitert um eine Ausstellung zum Krieg, der gerade stattfindet. Im Museumskeller sind die Verhältnisse des Kellerlebens von 60 Menschen in einem der Vororte während der 30-tägigen Besatzung nachgebaut. Enge und Dunkelheit bedrücken unmittelbar. Hunger, Ungewissheit und Angst muss man sich dazu vorstellen. Hier spielten Mütter mit ihren kleinen Kindern Normalität, hier starben gleichzeitig alte Leute ohne medizinische Versorgung.

Auf den Außenflächen stehen alle möglichen Typen früherer sowjetischer Panzer und Geschütze. Ein Trägerfahrzeug für Interkontinentalraketen erinnert daran, dass nach dem Ende des Sowjetkommunismus die unabhängig gewordene Ukraine für wenige Jahre selbst auch eine Atommacht war, die drittstärkste der Welt. Damals schien es weise, dass diese Hinterlassenschaft der untergegangenen Sowjetunion in Russland zusammengeführt (und weiter reduziert) werde. Mit dem „Budapester Memorandum“ von 1994 übergaben Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine alle auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen an Moskau. Im Gegenzug garantierten Russland, die USA und Großbritannien die territoriale Integrität und Souveränität insbesondere der Ukraine. Papier von gestern.

Die bittere Lehre heute lautet: Ex-Nuklearmächte kann man überfallen, besetzen, annektieren. Oder anders herum: Wer vor seinen Nachbarn in Sicherheit leben (oder andere selbst bedrohen) will, schaffe sich Atomwaffen an! So wie Nordkorea es schon getan hat oder der Iran es versucht. Auch in der Türkei, in Saudi-Arabien und Südafrika wird darüber spekuliert, welche Vorteile es haben könnte, dem Atom-„Club“ beizutreten.

Dableiben

Weiter zur Serhii Prytula Foundation. Die Stiftung sammelt sehr erfolgreich Geld, um Hilfsgüter und auch Waffen für die Armee zu kaufen, u. a. Bayraktar-Drohnen. Der Stifter ist ein bekanntes Fernsehgesicht in der Ukraine, so etwa wie Dieter Bohlen, wird uns gesagt. Meine Sorge, den Star vielleicht peinlicherweise nicht zu erkennen und als letztes zu begrüßen, erweist sich als unbegründet. Serhii Prytula hat die Präsenz von Robert Habeck, also nicht zu verfehlen. Er habe sich jetzt zu 100 Prozent dem Überlebenskampf seines Landes verschrieben, und nach dem Ende des Krieges werde er dann wohl weiter Politik machen, sagt er. Demokratie kann attraktiv sein.

Zum Abendessen treffen wir das Mitglied der Werchowna Rada, Halyna Yanechenko. Ihre Kinder sind im Ausland in Sicherheit, sie selbst hält im Parlament die Stellung. Aber die Trennung zehrt an ihren Nerven – wie in Millionen ukrainischen Familien zurzeit. Geschätzt acht Millionen der 40 Millionen Einwohner haben die Ukraine verlassen, mehrere Millionen sind Flüchtlinge im eigenen Land. Deutschland ist nach dem direkten Nachbarn Polen das größte westliche Aufnahmeland mit gegenwärtig etwa einer Million Flüchtlinge.

Alarm

Das Radisson Blue Hotel hat einen ausgeschilderten Schutzraum im Untergeschoss. Wir sehen die Schilder, machen aber keine Erkundung. Dafür unterschreiben wir, dass wir auf eigene Gefahr selbst entscheiden, ob wir bei Alarm den Schutzraum aufsuchen oder nicht.

Luftalarm gibt es mehrmals am Tag. Die meisten Kiewer haben eine Warn-App installiert, auch einige aus unserer Gruppe. Der Smartphone-Alarm setzt etwas früher ein als das Sirenengeheul auf der Straße. Wenige Minuten später zeigt die App auch an, was Grund der Warnung ist. Sind es zwei russische MiG-31, die in Weißrussland aufsteigen, um die ukrainische Luftabwehr zu testen, geht niemand in den Keller. Anders ist das bei Marschflugkörpern oder Drohnen. Allerdings steht modernste westliche Luftabwehr im Raum Kiew. Da kommt wenig durch, solange die Abfangflugkörper reichen. Aber wenn doch: Wir haben auch die Zerstörungen am Kraftwerk mitten in der Stadt gesehen.

Exodus

Beim Frühstück mit dem Militärattaché und unserer brillanten Botschafterin Anka Feldhusen in ihrer Residenz im 6. Stock eines alt-sowjetischen Wohnhauses (besser keinen Fahrstuhl benutzen!) geht es noch einmal um das Thema Flüchtlinge. Die ukrainische Regierung fürchtet, dass, je länger der Krieg dauert, desto größer die Zahl derer wird, die in den Aufnahmeländern heimisch werden, die fremde Sprache sprechen, arbeiten, Freunde finden, die Kinder nicht noch einmal entwurzeln wollen.

Wie attraktiv wäre eine Rückkehr in die verwüsteten Landesteile der Ukraine? Wo wären die Jobs, die Wohnungen? Würden die demobilisierten Soldaten sich nach dem Krieg nicht lieber dem Exodus ihrer Familien anschließen, statt sie zurückzuholen ins Nichts? Gehört auch das zu Putins Kalkül, die Ukraine zu entvölkern, so oder so?

Wir sprechen mit Diplomaten im Außenministerium über die militärische Lage, die westliche Solidarität und die Debatte in Deutschland. Ohne Dolmetscher, auf Deutsch, Klartext. Wir treffen eine andere Hilfsorganisation, United24, in einem mega-coolen Co-Working-Space in der City. Kiew ist wie Berlin in den Nullerjahren. Nein, es könnte so sein.

Jedi-Ritter

Ohne Journalistenbegleitung weiter zum Logistikkommando der Streitkräfte. Gerade wird ein Luftalarm beendet. Die App sagt mit der Stimme von Luke Skywalker: „May the force be with you!“ Ironie, Sarkasmus, schwarzer Humor, Trotz, Durchhaltewille – an Tapferkeit sind die Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit wohl nicht zu überbieten.

Was die Stabsoffiziere aus der Praxis vortragen ist weder geheim noch überraschend: Hunderte von unterschiedlichen westlichen (und sowjetischen) Waffensystemen stellen in Wartung, Reparatur und Versorgung doch eine gewisse Herausforderung dar … Gebraucht werden Ersatzteile, Sonderwerkzeuge und Munition. Und mehr Waffen.

Das Hin und Her der westlichen Waffen-Debatte erinnert mich manchmal an die Kompromisssuche in Koalitionsverhandlungen. Aber hier geht es um Sein oder Nichtsein, um die nackte Existenz. Fiele die Ukraine, wäre im Übrigen auch der Westen stärker bedroht als jetzt und vielleicht jemals zuvor. Und niemand sollte so tun, als ob er wisse, was genau Putin zum Einsatz von Atomwaffen veranlassen oder davon abhalten könnte. Schwäche jedenfalls schreckt ihn nicht ab.

An anderer Stelle haben wir dann ein Zoom-Meeting mit „Fabian“ und „Max“, zwei deutschen Freiwilligen in der „Internationalen Legion“ nahe der Front im Osten. Die beiden ehemaligen Zeitsoldaten machen einen besonnenen, sympathischen Eindruck. Ihre Motivation klingt idealistisch: Freiheit verteidigen. Aber heikel ist so ein Engagement schon. Putins Propaganda wäre entzückt über „deutsche“ Kriegsgefangene. Laut Wikipedia hat die „Internationale Legion“ 1500 Angehörige aus vielen Ländern. Deutschen rät die Bundesregierung ausdrücklich davon ab, selbst in der Ukraine zu kämpfen.

Bürgermeister

Am dritten Tag geht es zu den Schauplätzen des russischen Vorstoßes auf Kiew gleich zu Beginn des Überfalls. Wir stoppen auf der Straße nach Korosten an einer Stelle, wo acht ausgebrannte Panzerwracks im Schnee liegen, zur Seite geschoben, um den Verkehr wieder fließen zu lassen, nicht abtransportiert, um Besuchern zu zeigen, was da drohte vor genau einem Jahr, Ende Februar 2022.

Die Schlacht um die Hauptstadt Kiew wurde in den Vororten geschlagen, am Flugplatz Hostomel und in Kleinstädten wie Borodianka, Butscha und Irpin. Der Bürgermeister von Borodianka selbst hat mit bewaffneten Stadtverordneten und einer Bürgerwehr am Ortseingang russische Kolonnen aufgehalten. Manches im Ort ist zerstört, aber die meisten Bewohner sind dageblieben, der Wiederaufbau läuft.

Zum Sinnbild russischer Kriegsverbrechen wurde in den Wochen der Besatzung die Stadt Butscha. Hier rissen Bomben ganze Wohnblöcke weg. Zivilisten wurden verschleppt, gefoltert, getötet und auf die Straße geworfen. Eine orthodoxe Kirche ist zum Gedenkort umfunktioniert. Fotografien zeigen die Gräuel. Auf dem Smartphone des Priesters sieht man das Bergen der Toten, manche noch gefesselt, und die provisorische Bestattung in Massengräbern direkt neben der Kirche. Mitglieder des Kirchenchors sind darunter. Der Priester zeigt die Aufnahmen sicher nicht zum ersten Mal, aber er weint leise dabei, wie auch manche von uns.

Irpin, das ungefähr so groß wie Flensburg ist, will so schnell wie möglich wieder aufbauen, was in Trümmern liegt. Sonst kommen die Flüchtlinge nicht wieder zurück, sagt der stellvertretende Bürgermeister. Und wenn man auf das Kriegsende warten wollte, wäre ja im ganzen Land noch viel mehr zu tun. Also heißt es gleich anpacken. Die Stadtverwaltung hat schon Prospekte des neuen Irpin gedruckt und sucht Geldgeber. Im Bistro am Rathausplatz wollen wir noch einen Kaffee trinken. Der Strom fällt aus. Aber nach zwei Minuten hat der Wirt sein Notstromaggregat in Gang gesetzt, Kaffee läuft. „Keep calm and carry on!“, wie Winston Churchill sagen würde.

Orks

Am Nachmittag treffen wir, zurück in Kiew, Politikwissenschaftler in der Universität. Wir tasten uns durch dunkle Treppenhäuser und Korridore, diesmal nicht, weil der Strom weg ist, sondern weil alle sich bemühen, Energie zu sparen. Die einheimische Stromerzeugung ist um 50 Prozent zurückgegangen. Ein Professor analysiert die Kreml-Propaganda und Moskaus Versuch, die alte russische Kultur als Waffe gegenüber der vermeintlich kulturlosen Ukraine zu instrumentalisieren: Tolstoi, Dostojewski, Schostakowitsch!

Doch welcher Kultur folgen die Bombardements, das Artilleriefeuer, die infanteristischen Sturmangriffe der Wagner-Söldner im Stil des Ersten Weltkriegs? Im Sprachgebrauch mancher Ukrainer greifen die Russen an wie die besinnungslosen Orks in Tolkiens „Herr der Ringe“. Oder mit den viel zitierten Worten des pensionierten NATO-Generals Hans-Lothar Domröse: „Zerstören, das können die Russen. Geradeaus fahren, Walze, Walze, Walze, reinschlagen, und dann haben wir Tschetschenien und Aleppo.“ Oder Butscha und Bachmut und Mariupol.

Gründe

Es existiert eine ältere Kriegsgeschichte, eine deutsch-ukrainische, die uns Deutschen längst nicht so präsent ist wie den Ukrainern. 1941 bis 1944 fraß sich vier Mal die Front des Zweiten Weltkrieges verheerend durch die Ukraine, damals eine Sowjetrepublik. „Barbarossa“ war nicht nur ein „Russland“-Feldzug. Ein Fünftel der ukrainischen Bevölkerung überlebte diesen Vernichtungskrieg nicht: Soldaten, Kriegsgefangene, Partisanen, Juden, Zwangsarbeiter, Verhungerte.

Wir Deutsche haben viele gute Gründe, der Ukraine heute zu helfen. Die besondere historische Verantwortung gehört dazu.

Eine große Sorge unserer ukrainischen Gesprächspartner nehmen wir mit nach Deutschland: dass wir uns im Westen an diesen Krieg anderer Leute im Osten langsam gewöhnen, dass die Unterstützung der freien Welt nach und nach lau wird und einschläft. Das darf nicht passieren, wir müssen wach bleiben!

Um 19.26 Uhr verlassen wir Kiew fahrplanmäßig mit dem Nachtzug und erreichen Berlin-Hauptbahnhof am nächsten Abend etwa um dieselbe Zeit. Auf dem Bahnsteig stehen wie immer, wenn der Intercity aus Warschau einläuft, die freiwilligen Helfer in ihren gelben Westen, um Flüchtlinge in Empfang zu nehmen.


Der Autor

Dr. Hans-Peter Bartels war Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter. Er ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

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