Bundeswehrsoldaten im Dezember 2009 auf der Höhe 431 in Chahar Dara in Afghanistan. Nur fünf Monate später, am 2. April 2010, kam es ebenfalls im Distrikt Chahar Dara zum tödlichen Karfreitagsgefecht. Bei ihm starben Hauptfeldwebel Nils Bruns, Hauptgefreiter Martin Augustyniak und Stabsgefreiter Robert Hartert. Foto: Bundeswehr/Schoeffner

08.07.2022
Frank Schauka

Bundestag setzt Enquetekommission „Lehren aus Afghanistan“ ein

Berlin. Gleich zweimal hat sich der Deutsche Bundestag heute mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan befasst. Am Nachmittag setzte eine breite Mehrheit aus SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP die Enquetekommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ ein, der auch der Bundesvorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, als Experte angehören wird. 14 Stunden zuvor, gegen 1 Uhr in der Nacht, hatte der Bundestag bereits die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beschlossen. Während dieser seine Prüfung auf die anderthalb Jahre vor dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan fokussiert, nimmt die Enquetekommission alle 20 Einsatzjahre in den Blick.

„Es geht darum zu gucken, wie wir humanitär, finanziell, militärisch helfen konnten“, sagte der designierte Vorsitzende der Enquetekommission, der SPD-Abgeordnete und ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller. „Es geht darum, den gesamten außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Einsatz unseres Landes zu betrachten und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.“

Daraus, so Müller, sollten vor allem Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen werden. „Mit wissenschaftlicher Expertise werden wir die vergangenen 20 Jahre evaluieren, Erkenntnisse praxisnah formulieren, zukunftsgerichtet aufbereiten und so vor allen Dingen für zukünftige Auslandseinsätze wichtige Erkenntnisse weitergeben können.“

Michael Müller: „Vor jedem Einsatz muss es zwingend von Experten Analysen zu den Verhältnissen vor Ort geben.“

Ein sogenannter vernetzter Ansatz soll die Arbeit der Enquetekommission bestimmen. Was das bedeutet, beschrieb Müller so: „Der vernetzte Ansatz darf nicht nur bedeuten, dass wir hier vor Ort ressortübergreifend zusammenarbeiten und uns über unsere Einsätze auseinandersetzen. Nein, der vernetzte Ansatz muss bedeuten, die Menschen vor Ort miteinzubeziehen.“ Konkret heißt das, so der Kommissionsvorsitzende Müller: „Vor jedem Einsatz muss es zwingend von Experten Analysen zu den Verhältnissen vor Ort geben.“

Folgende Fragen müssten dabei analytisch ausgelotet und beantwortet werden: „Was ist überhaupt ein realistisches Ziel? Gibt es Strukturen, die man nutzen kann? Können wir mit unseren Mitteln eine Gesellschaft nach unseren Maßstäben verändern? Haben wir uns vor unserem Engagement wirklich intensiv mit Geschichte und Kultur, mit der Situation vor Ort auseinandergesetzt?“

Nur wenn diese Fragen umfassend beantwortet würden, könne Deutschland „seinen Beitrag zu nachhaltigen Friedensbemühungen und internationaler Sicherheit leisten“, führte der SPD-Politiker aus. „Es reicht nicht, allein edle Ambitionen zu haben, sondern wir müssen realistische und umsetzbare Ziele definieren.“

Auch während des Einsatzes der Streitkräfte gehörte Afghanistan zu den fragilsten Ländern der Welt

Angesichts von mehreren tausend zivilen Opfern pro Jahr durch Kampfhandlungen in Afghanistan sei diese Form der zukunftsgerichteten Aufarbeitung des Einsatzes am Hindukusch dringend geboten, betonte Müller. Allein im Jahr 2020 seien etwa 2500 versehrte oder getötete afghanische Kinder gezählt worden. „Das heißt, auch während unseres Einsatzes gehörte Afghanistan zu den fragilsten Ländern der Welt“, sagte Müller. „Wir haben keine dauerhafte Befriedung hinbekommen.“

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: „Es war nicht alles schlecht.“

„Nein, es war nicht alles schlecht“, sagte Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags. Hundertausende Soldatinnen und Soldaten, aber auch zivile Mitarbeiterinnen und Helfer, Diplomaten und Polizisten hätten „mit großem persönlichem Einsatz ihr Bestes gegeben“.

Trotzdem, so Strack-Zimmermann, „steht in Afghanistan am Ende der vollständige Kollaps aller staatlichen Ordnung. Trotz alledem müssen sich Frauen in der Öffentlichkeit wieder voll verschleiern.“

Johann Wadephul: „Für 20 Jahre war Afghanistan kein Rückzugsort mehr für internationalen Terrorismus.“

Die von der FDP-Verteidigungsexpertin skizzierte Diskrepanz zwischen Jahren vermeintlicher Erfolge und dem fluchtartigen Verlassen des Landes im Sommer 2021 bewegte auch den CDU-Abgeordneten Dr. Johann Wadephul. „Wir haben in 20 Jahren viel erreicht. Für 20 Jahre war Afghanistan kein Rückzugsort mehr für internationalen Terrorismus, gingen von dort keine Anschläge mehr aus“, sagte Wadephul. „Für 20 Jahre haben dort Frauen und vor allem Mädchen Rechte genossen, durften Schulen und Universitäten besuchen, durften Berufen nachgehen wie zuvor jahrzehntelang nicht. 20 Jahre lang gab es Wahlen, gab es einen kritischen Journalismus, gab es Rechte für religiöse und ethnische Minderheiten. 20 Jahre lang war Afghanistan ein Land mit großen Herausforderungen und riesigen Problemen. Aber es war ein Land mit einer jungen Generation voller Hoffnung und mit Potentialen.“

Plötzlich brachen alle Erfolge weg

Doch dann, nach 20 Jahren, als die alliierten Streitkräfte Afghanistan wieder verließen und den radikal-islamischen Taliban die Herrschaft überließen, „brachen alle Erfolge weg“, sagte Wadephul. Als vor einem Jahr die Taliban das Land blitzartig überrannten, hätten sich alle die Frage gestellt, was falschgelaufen sei. Diese Frage sei nach wie vor relevant. „Wir wollen, dass unsere anderen Engagements in anderen Regionen der Welt dauerhaft und nachhaltig erfolgreich sind“, sagte Wadepuhl. „Denn es ist klar, dass wir auch in Zukunft in der Welt engagiert bleiben müssen, um unsere Sicherheit zu gewährleisten, um unserer internationalen Verantwortung gerecht zu werden.“

In Afghanistan sind weit mehr als 90.000 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz gewesen, einige mehrfach, manche sechs- bis achtmal. Der Bundestag beschloss in den zwei Jahrzehnten bis Mitte 2021 mehr als 20 Mandate mit Bezug zu Afghanistan.

59 deutsche Soldaten starben in Afghanistan

59 deutsche Soldaten verloren in Afghanistan ihr Leben. Allein in dem neunstündigen Feuergefecht am 2. April 2010, dem berüchtigten „Karfreitagsgefecht“ nahe der Ortschaft Isa Khel in der Provinz Kundus, verloren drei Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 373 ihr Leben: Hauptfeldwebel Nils Bruns, Hauptgefreiter Martin Augustyniak, Stabsgefreiter Robert Hartert.

Für Hunderte und Aberhunderte Soldaten, die seit ihrem Einsatz in Afghanistan unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, ist der Krieg – der viele Jahre offiziell nicht „Krieg“ genannt werden durfte – bis heute nicht vorbei. Der Deutsche BundeswehrVerband gibt ihnen eine Stimme und leistet Unterstützung.

 

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