Ukrainische Soldaten, nachdem sie die Ortschaft Schevchenkivka im Oblast Cherson befreit haben. Foto: Twitter/Ukrainische Streitkräfte

04.10.2022
Von Yann Bombeke

Ukraine rückt an mehreren Fronten vor – wer ist der Kopf hinter den jüngsten Erfolgen?

Die Ukraine ist in zwei Regionen des Landes in die Offensive gegangen und meldet Geländegewinne – nun brechen allem Anschein nach auch im Süden die russischen Verteidigungslinien zusammen. Hinter den ukrainischen Erfolgen steckt ein Mann, der die Armee auf NATO-Kurs getrimmt hat und auf unkonventionelle Methoden setzt.

Bestens gelaunt wirkte Oleksij Resnikow, der ukrainische Verteidigungsminister, beim Besuch seiner deutschen Amtskollegin Christine Lambrecht am vergangenen Wochenende – was vermutlich nur zum Teil an der Ankündigung Lambrechts lag, dass Deutschland „in Kürze“ das erste hochmoderne Flugabwehrsystem IRIS-T an die Ukraine ausliefern werde. Denn dies war schon wenige Tage zuvor kommuniziert worden. Resnikow hatte sicherlich an diesem Wochenende gut lachen, weil sich die positiven Nachrichten von den Fronten im Kampf gegen den Aggressor Russland zuletzt nahezu überschlugen.

Nachdem die ukrainischen Streitkräfte mit einer Offensive von Anfang bis Mitte September den größten Teil der Region Kharkiv befreien konnten, war es nun die kleine, aber aufgrund ihrer Eisenbahninfrastruktur strategisch wichtige Stadt Lyman, die von Russland zurückerobert wurde. Besonders pikant: Die Stadt gehört zur Region Donezk, die am Tag zuvor von Putin via Dekret illegal annektiert worden war. Somit verblieb Lyman keine 24 Stunden in der Russischen Föderation. Wie zuvor in der Region Kharkiv zeugen Bilder von einem chaotischen russischen Rückzug: Ausgebrannte Fahrzeugwracks und viele Leichen liegen noch am Straßenrand. An der Sichtweise des russischen Verteidigungsministeriums eines „geordneten Rückzugs auf zuvor vorbereitete, vorteilhaftere Verteidigungslinien“, kommen bei diesen Szenen Zweifel auf.

Offensive in der Region Cherson

Kaum war Lyman befreit, richteten sich an diesem Wochenende die Blicke Richtung Süden: Dort gelang der Ukraine im Norden der Region Cherson ein weiterer überraschender Vorstoß. Im Norden der von Russland besetzten, ebenfalls per Fake-Referendum annektierten Region, brachen gepanzerte Verbände der ukrainischen Streitkräfte am Sonntag schnell entlang des Dnjepr durch und befreiten zahlreiche Ortschaften. Auch hier scheint die russische Verteidigung zu kollabieren, größere Gebiete stehen nun wieder unter ukrainischer Kontrolle. Es gibt heute zahlreiche Berichte, auch von prorussischen Bloggern, dass sich Russland gerade komplett aus dem Norden der Region Kherson zurückzieht.

Dass Russland Schwierigkeiten bei der Verteidigung des Gebiets hat, liegt auch an den geographischen Gegebenheiten und dem systematischen Vorgehen der Ukraine. Mitten durch das Oblast Cherson zieht sich der Dnjepr. Nachdem die Ukraine in den vergangenen Wochen immer wieder gezielt Brücken und Versorgungswege mit ihrer Artillerie unter Beschuss genommen hat, haben die russischen Streitkräfte große Probleme, Nachschub in den nun bedrängten Norden der Provinz zu bringen.

"Führen mit Auftrag" - gelebte Praxis in der Ukraine

Als Kopf hinter dem planvollen Vorgehen der ukrainischen Streitkräfte gilt General Walerij Saluschnyj, der im Juli vergangenen Jahres von Präsident Wolodymyr Selenskkyj zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine ernannt wurde. Saluschnyj steht für den Wandel, den die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Jahren vollzogen haben: Weg vom schwerfälligen sowjetischen Erbe, hin zu einer modernen Armee, die nach einem Prinzip agiert, wie es in der NATO und vor allem in der Bundeswehr bestens bekannt ist: Führen mit Auftrag. Offiziere an der Front haben weitreichende Freiheiten, können so mit großer Flexibilität handeln und sich auf stets neue Situationen einstellen.

Dass der russische Vorstoß auf Kiew im März gescheitert ist, wird vor allem auch der Führung durch Saluschnyj zugeschrieben, ebenso die jüngsten offensiven Erfolge im Nordosten und im Süden. Das US-Nachrichtenmagazin „Time“ widmet unter dem Titel „The General“ Saluschnyj nun das Titelbild des renommierten Blattes – ganz im Stil eines ikonischen Time-Covers aus dem Zweiten Weltkrieg, das den US-General Dwight D. Eisenhower, genannt „Ike“, zeigte.

Als Saluschnyj im vergangenen Sommer zum Oberbefehlshaber berufen wurde, begann bereits der russische Aufmarsch an den Grenzen der Ukraine. Für den 48-Jährigen war es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer Invasion kommen würde, er begann unverzüglich, den Widerstand vorzubereiten. Panzer, Flugzeuge, Flugabwehrsysteme wurden aus den Militärbasen geholt und im Land verteilt – in aller Diskretion. „Der Gegner musste im Glauben gelassen werden, dass wir alle in unseren üblichen Kasernen sind, Gras rauchen, Fernsehen gucken und das alles auf Facebook posten“, wird Saluschnyj, der für seinen derben Humor bekannt ist, im Time Magazine zitiert. Die Täuschung gelang: Der russische „Enthauptungsschlag“ zu Beginn der Invasion am 24. Februar ging weitgehend ins Leere. Die ukrainische Flugabwehr und die Luftwaffe sind nach wie vor aktiv, bis heute gelang es Russland nicht, die Lufthoheit über der Ukraine zu erlangen.

Dabei zeigte sich Saluschnyj überrascht von den Fehlern, die von Russland immer wieder begangen wurden und werden. Wenn der Gegner auf harten Widerstand traf oder der benötigte Nachschub nicht nach vorne gebracht werden konnte, zog er sich nicht zurück oder versuchte einen anderen Ansatz. „Sie trieben ihre Soldaten immer wieder wie in einer Herde zur Schlachtbank“, so der General zur Time. Und weiter: „Sie haben das Szenario gewählt, das mir am gelegensten kam.“

Moskau doht mit Atomwaffen

In diesen Tagen zeigt die Ukraine, dass sie nicht nur ihr Land verteidigen, sondern auch in die Offensive gehen kann. Doch wie wird Russland reagieren? Die Teilmobilmachung von bis zu 300.000 Reservisten verläuft vielfach chaotisch, Soldaten werden schlecht vorbereitet und ausgestattet an die Front geschickt. Erfolgversprechend sieht das nicht aus. Angesichts der Misserfolge fordern Hardliner nun drastischere Maßnahmen. Wladimir Putins Protegé in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, brachte jetzt den Einsatz von kleineren, taktischen Nuklearwaffen ins Spiel.

Einem solchen Szenario würde der Westen wohl nicht tatenlos zuschauen. Der ehemalige US-Viersternegeneral David Petraeus sagte in einem TV-Interview, dass ein Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine eine massive Vergeltung der USA und der NATO-Staaten zur Folge hätte. Alle konventionellen russischen Verbände in der Ukraine würden zerschlagen werden, ebenso die russische Schwarzmeerflotte. Die Drohungen aus Russland müssten aber ernst genommen werde, so der ehemalige CIA-Direktor. Deshalb hätten die USA Russland über verschiedene Kanäle über ihre Reaktion auf einen möglichen Einsatz taktischer Nuklearwaffen informiert.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick