Ungesunde Ernährung, Dauersitzen, Alkohol und Zigaretten: Immer häufiger erfasst die Bundeswehr die mangelnde Fitness ihrer Rekrutinnen und Rekruten. Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

Ungesunde Ernährung, Dauersitzen, Alkohol und Zigaretten: Immer häufiger erfasst die Bundeswehr die mangelnde Fitness ihrer Rekrutinnen und Rekruten. Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

04.05.2021
Christine Hepner

Deutlicher Abfall der Leistungskurve

Im Interview mit Oberstarzt Prof. Dieter Leyk sollte es eigentlich um die Frage gehen, ob die Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit einen Karrierenachteil für Frauen im Truppendienst der Bundeswehr darstellen. Sehr schnell kam das Gespräch aber auf ein Thema, das, ganz unabhängig von der Geschlechterfrage, starke Auswirkungen auf die zukünftige Einsatzbereitschaft der Streitkräfte hat.

Die Bundeswehr: Steht Frauen in der Bundeswehr jeder Dienstposten offen oder werden sie aufgrund körperlicher Voraussetzungen von bestimmten Werdegängen ausgeschlossen?

Oberstarzt Prof. Dieter Leyk: Die Bundeswehr schreibt Dienstposten aus. Das bedeutet, dass die Person, mit der der Dienstposten besetzt werden soll, bestimmte Anforderungen erfüllen muss. Der Dienstposten ist also geschlechterunabhängig ausgeschrieben und definiert nicht, ob Mann oder Frau.

Frauen müssen aber genauso wie Männer bestimmte Leistungstests wie den Basis-Fitness-Test absolvieren. Entstehen den Frauen hier Nachteile?

Nein. Mit dem Basis-Fitness-Test (BFT) wird in der Bundeswehr jedes Jahr die körperliche Leistungsfähigkeit in Form eines sportmotorischen Tests gemessen. Der BFT besteht aus einem Sprinttest, dem Klimmhang und einem 1000-Meter-Lauf. Um den BFT zu bestehen, muss eine Mindestleistung erbracht werden, die für alle Personen, unabhängig von Alter, Status und Geschlecht gilt. Die Anforderungen sind hier so niedrig, dass eigentlich jeder, der nur ein bisschen fit ist, den BFT erfolgreich absolvieren kann. Diese BFT-Mindestanforderungen sind sozusagen „genderneutral“.

Die BFT-Leistungsbewertungen – bei Erfüllen der Mindestanforderungen – erfolgen dann „genderfair“. Ein Beispiel: Eine 50-jährige Frau und ein 28-jähriger Mann laufen die 1000 Meter gleich schnell in vier Minuten. Es liegt auf der Hand, dass trotz gleicher Zeit die Leistungen unterschiedlich zu bewerten sind. Deshalb gibt es beim BFT einen Bonus, der biologisch bedingte Nachteile ausgleicht. 

Welchen Bonus gibt es und auf welcher Grundlage wird er festgelegt?

Um eine chancengleiche Bewertung der erzielten Testleistungen zu ermöglichen, werden beim BFT physiologisch bedingte Nachteile durch Ausgleichsfaktoren kompensiert. So sind zum Beispiel altersassoziierte Leistungsverluste mit biologischen Alterungsprozessen verknüpft. Daher gibt es ab dem 36. Lebensjahr einen BFT-Altersbonus von 0,5 Prozent pro Jahr. Grundlage für die Bonusfestlegung waren Leistungsanalysen von über 500.000 Personen im Alter von 20 bis 80 Jahren.

Eine andere faire Leistungsbewertung wird durch den Geschlechtsbonus ermöglicht, der unterschiedlich groß ist. Die biologisch bedingten Leistungsdifferenzen zwischen Frauen und Männern hängen nämlich von der motorischen Beanspruchungsform ab. Im Ausdauer- und Schnelligkeitsbereich beträgt der Leistungsunterschied etwa 15 Prozent, im Kraftbereich hingegen 40 Prozent. Deshalb gibt es beim 1000-Meter-Lauf und beim Sprinttest einen Geschlechtsbonus von 15 Prozent, beim Klimmhang von 40 Prozent. Diese Bonushöhen basieren auf den wissenschaftlichen Ergebnissen zahlreicher leistungsphysiologischer Studien.

Welche Auswirkungen hat diese biologische Komponente auf die Chancen von Frauen in körperlich besonders anspruchsvollen Verwendungen?

Beim KSK können sich sowohl Frauen wie auch Männer bewerben. Entscheidend ist, ob die Personen die geforderten Leistungen erfüllen. Diese ergeben sich aus den Einsatzerfordernissen: Die Aufgabe bestimmt, was geleistet werden muss. Dazu gehört zum Beispiel das Bewegen im Gelände mit 50, 60 oder 70 Kilogramm Ausrüstung. Wenn man 1,65 Meter groß ist und nur 55 Kilo wiegt, ist man dann schnell im tiefroten Bereich.

Ein anderes Beispiel für körperlich fordernde Belastungen ist das Retten und Bergen. Beim beweglichen Arzttrupp muss das Rettungspersonal in der Lage sein, eine verletzte Person in unebenem Gelände zum Beispiel 100 bis 150 Meter mit einer Krankentrage zu transportieren. Dies ist mit Schutzweste, Helm und Kampfstiefeln eine gewaltige Belastung. Wenn ich als Verletzter irgendwo liege, ist es mir egal, wie die Hautfarbe, die Religion, das Alter oder das Geschlecht des Rettungspersonals ist. Die Hauptsache ist, dass man mich schnell und sicher rettet. Etwa 60 Prozent der Frauen haben aber eine zu geringe Greifkraft, so dass der Transport einer verletzten Person für diese kaum zu bewältigen ist. Unabhängig vom Geschlecht sollte künftig viel stärker darauf geachtet werden, ob Soldatinnen und Soldaten elementare militärische Aufgaben auch erfüllen können. 

Welche anderen Bereiche betrifft das noch neben KSK und Sanitätstrupp?

Immer dann, wenn es mit Lasten zu tun hat, haben Frauen Nachteile, weil sie biologisch bedingt nicht nur weniger Muskelkraft, sondern auch eine geringere Krafttrainierbarkeit als Männer haben. Dies gilt nicht für Ausdauerleistungen: Wissenschaftliche Studien belegen eindeutig, dass die Ausdauerleistung stärker durch Training und individuelles Potenzial bestimmt wird als durch das Geschlecht. Deshalb warne ich vor der unzulässigen „Blickdiagnostik“: Männer fit, Frauen unfit. Das geht schief! Zudem haben wir eine wachsende Zahl von, ich bezeichne diese mal als übergewichtige männliche „Niederleistungsexperten“, die gegenüber trainierten Frauen keinerlei Chancen haben.

Wenn wir über die körperliche Leistungsfähigkeit und Belastung von Frauen in der Bundeswehr sprechen, ist festzuhalten: Selbstverständlich gibt es einen biologisch bedingten körperlichen Leistungsunterschied zwischen Frauen und Männern. Ich möchte an dieser Stelle aber ein viel größeres Problem ansprechen, dass die Bundeswehr immer stärker erfasst und viele bislang unterschätzen. Es geht um die negativen gesellschaftlichen Gesundheits- und Leistungstrends. 

Durch ungünstige Verhaltensweisen wie ungesunde Ernährung, Dauersitzen in Beruf und Freizeit, Rauchen, übermäßigen Alkoholkonsum steigen seit Jahren nicht nur die Zahl nicht-übertragbarer Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere, sondern auch die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage. Hinzu kommt der exzessive Umgang mit digitalen Medien, der sich negativ auf Konzentration, Arbeitsgedächtnis und so weiter auswirkt und psychische Problematiken verstärkt. Depressionen und Burnout-Erkrankungen nehmen in der Gesellschaft stark zu. In den letzten zehn Jahren hat sich beispielsweise die Zahl junger Menschen verdoppelt, die eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen mussten. Es ist erwiesen: Gesundheit, Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit vieler Menschen verschlechtern sich zunehmend.

Außerdem haben sich die Einstellungen gegenüber beruflichen Belastungen geändert. Private Belange, genügend Freizeit und Freiheiten, flexible Arbeitsbedingungen haben mittlerweile einen hohen Stellenwert. Insgesamt ist es kaum verwunderlich, dass sich die veränderten Lebenswelten und Einstellungen in der Gesellschaft auch auf Soldatinnen und Soldaten und deren Einsatzfähigkeit zusehends auswirken. Dies erklärt zum Beispiel, dass Rekrutinnen und Rekruten oft mental wie auch körperlich den Anforderungen der Grundausbildung nicht mehr gewachsen sind und es für die Bundeswehr immer schwieriger wird, eine möglichst hohe Zahl einsatzbereiter und leistungsstarker Soldaten zu erreichen. Die Lösung kann nur – und davon profitieren Frauen wie auch Männer – in der Prävention und in Anreizen zu gesundem und leistungsförderndem Verhalten liegen.

Was müsste man ändern?

Nach meiner Ansicht müsste man im Werdegang und mit Blick auf die Beförderungen viel stärker die individuelle Einsatzfähigkeit belohnen. Menschen können gelenkt und beeinflusst werden. Ein Instrument, das sich sehr gut eignet, sind Anreizsysteme. So etwas gibt es überall in der Gesellschaft, zum Beispiel in Form von Bonusprogrammen bei Gesundheitskassen. 

Warum nicht auch in der Bundeswehr einsatzbereite, gesunde, fitte Soldatinnen und Soldaten viel stärker belohnen? Was genutzt werden kann, ist der Egoismus der Menschen. Es gibt genügend Gründe, nicht einsatzfähig zu sein: die Trennung von Familie und sozialem Umfeld, die ganzen Einsatzwidrigkeiten, Gefahr für Leib und Leben, weniger Freizeit, die Sieben-Tage Woche. Wenn ich so oder so mein Sold bekomme und ich die Möglichkeit habe, mich „rauszunehmen“, dann mache ich doch lieber einen Dienst zu Hause. Und die, die fit sind und sich nicht rausnehmen können oder wollen, sind dann halt immer wieder im Einsatz. Ich halte Anreizsysteme zur Verbesserung der Einsatzfähigkeit für ein wirkungsvolles Instrument. 

Um noch einmal auf die Frauen zurückzukommen: Wie sehen Sie hier die zukünftige Entwicklung? Wird es mehr Frauen in der Bundeswehr geben?

Der Anteil der Menschen, die rein körperlich arbeiten, ist ja aufgrund der Technisierung, die wir in allen Bereichen erleben, im Vergleich zu früher viel kleiner geworden. Daher werden auch bei den Streitkräften die Möglichkeiten für Frauen größer werden. Nicht nur als Vater einer Tochter, die als Soldatin in der Bundeswehr dient, bin ich ganz klar Fan davon, dass der Anteil der Frauen in der Bundeswehr steigt. Das tut der Truppe gut.

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