Taliban-Kämpfer in Kabul: Sie haben jetzt das Sagen in Afghanistan. Prof. Dr. Masala von der Universität der Bundeswehr München sieht keine guten Perspektiven für das Land. Foto: picture alliance / newscom | Bashir Darwish

Taliban-Kämpfer in Kabul: Sie haben jetzt das Sagen in Afghanistan. Prof. Dr. Masala von der Universität der Bundeswehr München sieht keine guten Perspektiven für das Land. Foto: picture alliance / newscom | Bashir Darwish

24.08.2021
Yann Bombeke

„Der Unterschied zwischen den Taliban 1996 und 2021 besteht darin, dass die Taliban jetzt auf Twitter sind“

Prof. Dr. Carlo Masala ist Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr München. Wir haben mit ihm über den Zusammenbruch der afghanischen Sicherheitskräfte gesprochen und darüber, was nun von den Taliban zu erwarten ist.

Herr Prof. Dr. Masala, der Westen wurde den schnellen Fall Kabuls völlig überrascht. Wie konnte es dazu kommen, dass sämtliche Nachrichtendienste mit ihren Einschätzungen falsch gelegen haben?

Prof. Dr. Carlo Masala: Zunächst einmal muss man festhalten, dass es noch gar nicht erwiesen ist, dass die Dienste Fehleinschätzungen geliefert haben. Wir haben Berichte aus den USA, die sagen, dass seit Sommer vor einer schnellen Machtübernahme der Taliban gewarnt wurde. Aber grundsätzlich muss man sagen, dass sowohl die USA als auch die Europäer so schnell wie möglich aus Afghanistan raus wollten und deshalb allzu gern Berichten geglaubt haben, wonach es noch dauern würde, bis die Taliban die Kontrolle über das ganze Land haben.

War es abzusehen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte so schnell kollabieren? Was hat der Westen bei der Mission Resolute Support, in der es um die Ausbildung der afghanischen Armee ging, falsch gemacht?

Die Geschwindigkeit war so sicherlich nicht abzusehen, aber es war auch eine Illusion zu glauben, dass die ANA heftigen Widerstand leisten kann. Mit Abzug der USA (teils ohne die afghanischen Verbündeten zu informieren, siehe Bagram Air Base) wurde der ANA Luftunterstützung und Aufklärung entzogen und der Air Force im speziellen sämtliche Contractors, die für die Wartung und Reparatur der Maschinen verantwortlich waren. Auch hat es nie 300.000 Soldaten in der ANA gegeben. Da waren sehr viele Karteileichen dabei. Ich glaube nicht, dass etwas in der generellen Ausbildung falsch lief, ich glaube vielmehr, dass die Berichte, die vor Ort in die Hauptstädte geschickt wurden, zu positiv waren und dass man in den Hauptstädten nur das Positive sehen wollte und nie kritisch hinterfragt hat.

Medienberichten zufolge haben zahlreiche Einheiten den Taliban kampflos das Feld überlassen, so auch das von den Deutschen trainierte 209. Korps der Afghan National Army. Wie konnte es dazu kommen?

Warum sollten schlechtbezahlte Soldaten kämpfen, wenn ihre Kommandeure sich bereits im Vorfeld aus dem Staub machen. Zudem hören wir immer mehr Berichte, wonach die Taliban mit den Spitzen der Armeen Vereinbarungen getroffen haben und diese Spitzen ihre Mannschaften dazu aufforderten, nicht zu kämpfen.

Viele Afghanistan-Veteranen schauen mit Entsetzen auf das Ende des internationalen Einsatzes am Hindukusch. War alles umsonst? Was hätte man in diesem 20 Jahre andauernden Afghanistan-Einsatz anders machen müssen? Hätte die Bundeswehr etwas anders machen können?

Der Afghanistan Einsatz war erfolgreich, weil er sein militärisches Ziel, die Zerschlagung von Al-Qaida-Strukturen in Afghanistan, erreicht hat. Er ist politisch mit dem Ziel, Afghanistan zu demokratisieren und zu stabilisieren, gescheitert. Die Bundeswehr hat nur das ausgeführt, was sie an politischen Aufträgen erhalten hat. Deswegen muss die Frage lauten: Hat sie die richtigen Aufträge erhalten, um das politische Ziel zu erreichen? Wenn nein, ist es eine Schuld der Politik, nicht der Bundeswehr als Instrument der Politik.
 
US-Präsident Joe Biden sieht sich harten Vorwürfen ausgesetzt. War die Entscheidung zum Abzug dennoch richtig?

Meines Erachtens gab es keine Alternative zum Abzug. Am Schluss stand die Koalition mit 12.500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. Die Taliban hatten bereits 35 bis 45 Prozent des Landes unter ihrer militärischen Kontrolle. Mit dem Mitteleinsatz der Koalition war sowohl militärisch wie auch politisch nicht mehr viel möglich.

Unter den Leidtragenden in der aktuellen Situation sind die vielen Ortskräfte, die für die internationale Gemeinschaft tätig waren. Viele müssen jetzt befürchten, das Land nicht mehr verlassen zu können. Dabei wusste man in Deutschland schon vor Monaten, dass der Abzug bevorsteht. Warum wurde erst jetzt – offensichtlich viel zu spät – gehandelt?

Die Frage wird noch endgültig zu klären sein. Wenn man sich aber anschaut, dass die Verteidigungsministerin die Problematik der Ortskräfte bereits im April 2021 auf die  politische Agenda gesetzt hat und sowohl Auswärtiges Amt wie auch Bundesinnenministerium in der Folgezeit entweder untätig waren oder alles dafür getan haben, um das Prozedere hinauszuzögern und zu verkomplizieren – nur aus Kabul evakuieren, Flug muss selber bezahlt werden etc. – dann liegt der Schluss nahe, dass man das Thema afghanische Ortskräfte aus dem Wahlkampf raushalten wollte.

Die Taliban geben nach der Einnahme von Kabul vergleichsweise moderate Töne von sich. Gibt es da einen Sinneswandel oder zeigen sie ihr „wahres Gesicht“, sobald die letzten ausländischen Truppen das Land verlassen haben? Ist es aus Ihrer Sicht legitim, jetzt mit den Taliban zu verhandeln?

Ich zitiere einen US-Kollegen: Der Unterschied zwischen den Taliban 1996 und 2021 besteht darin, dass die Taliban jetzt auf Twitter sind. Die Taliban haben sich nicht verändert. Ihr Ziel ist nach wie vor die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates. Soll man mit ihnen verhandeln? Wenn es uns nicht gelingt, mit der laufenden Evakuierungsoperation alle Ortskräfte außer Landes zu bringen, muss man mit ihnen darüber verhandeln, wie dies auch nach Beendigung der Evakuierungsoperation möglich sein wird. Und generell brauchen wir diplomatische Kanäle zu den Taliban. Das nennt sich Realpolitik.

Ist die Macht der Taliban zementiert? Es gibt einzelne Berichte über Gruppierungen, die Widerstand angekündigt haben. Droht ein erneuter Bürgerkrieg im Land?

Wenn der Widerstand militärisch stark genug ist, was zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gesagt werden kann, dann droht in der Tat ein neuer Bürgerkrieg. Es gibt leider keine guten Perspektiven für Afghanen und Afghaninnen: entweder Bürgerkrieg oder Taliban-Herrschaft.

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