Thorsten Kardel im Trainingslager in der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf. Dort bereiten er und die Kameraden aus dem Team Invictus sich auf die Games in Den Haag in wenigen Wochen vor. Foto: Daniela Skrzypczak

18.03.2022
fke

Thorsten Kardel: Marathon-Mann und Invictus Athlet

Stabsbootsmann Thorsten Kardel ist einer von immer mehr aktiven und ehemaligen Soldaten der Bundeswehr, die mit PTBS leben – und denen der Sport dabei hilft. Für ihn stehen in den nächsten Wochen zwei persönliche und sportliche Höhepunkte im Kalender. Am 20. März läuft Kardel zum ersten Mal in seinem Leben einen Marathon. Es geht nach Los Angeles. Und vom 16. bis 22. April nimmt er an den Invictus Games teil.


Im deutschen Team Invictus, das im April nach Den Haag reist, ist der begeisterte Marinesoldat einer von 20 aktiven und ehemaligen Soldaten der Bundeswehr. Sie treffen auf 500 Soldaten und Soldatinnen aus 20 Nationen. Über Landesgrenzen hinweg verbindet die Athleten, dass sie versehrt aus Einsätzen zurückgekehrt und dennoch unbesiegt (invictus) sind. Beim Marathon hingegen ist Kardel nicht Teil eines Teams, sondern Einzelkämpfer.

Ansporn und Belastungstest zugleich
Die meisten Menschen würden sagen, dass die Distanz von rund 42 Kilometern die größte Herausforderung ist. Für den Wahl-Flensburger kommen aber noch „die Menschenmassen, die Enge und die Geräusche“ der amerikanischen Sportveranstaltung hinzu. Was die meisten Menschen zu Höchstleistungen antreibt, das jubelnde Publikum, kann für Kardel ein Trigger sein. Aber er sagt sich: „Nicht umsonst war ich jahrelang in Therapie.“ Man merkt, der Familienvater will sich immer wieder vergewissern, dass er die PTBS so weit wie möglich im Griff hat. Er will das, was er in der Therapie gelernt hat auch anwenden. Damit meint Kardel Klopftechniken oder Atemtechniken, die helfen, sich in Stresssituationen abzulenken oder zu beruhigen. Am Ende bleibe immer noch „sich aus der Situation zu entfernen“, die ein Trigger sein kann. Ein Trigger kann Menschen mit PTBS wieder in den Moment katapultieren, der sie traumatisiert hat.
Es ist daher wohl auch kein Zufall, dass der Norddeutsche sich nicht den Bahnmarathon auf dem Carl-Starcke Sportplatz in Melle ausgesucht hat. Nichts gegen Melle! Aber der Los-Angeles-Marathon ist einer der größten der Welt. Menschenmassen und Geräusche sind garantiert, ein echter Selbst-Test also. Kardel fasziniert aber auch die Route: Über den Hollywood Boulevard, den Rodeo Drive und durch Santa Monica.
Der Berufssoldat sportelt sich schon seit einigen Jahren durch die Welt. Er hat bereits am „Ride 2 Recovery“ teilgenommen, einer Radtour für Veteranen, die von San Francisco nach Los Angeles führte. Und er war 2017 bei den Invictus Games in Toronto dabei. Seine Belastbarkeit hat Thorsten Kardel also schon einigen Härtetests unterzogen. Wenn er über Kanada und seine Erlebnisse bei den Games spricht, wird aus dem ohnehin gut gelaunten, ein begeisterter Mensch. Überall wurden die Sportler begeistert begrüßt, es gab massenhaft freiwillige Helfer, der Austausch mit den Athleten aus anderen Ländern und den Betreuern war grandios. Als er beim 1500-Meter-Lauf noch auf der Bahn ist, während die anderen Läufer bereits fertig sind, feuert das Publikum ihn lauthals an. Seine „Konkurrenten“ warten am Ziel und alle fallen sich in die Arme. Und Kanada bietet ihm die perfekte Kulisse, um seiner Frau endlich einen ganz besonderen Heiratsantrag zu machen. Zwölf Jahre nach der Hochzeit fragt er sie an den Niagarafällen, ob sie seine Frau werden – oder eher bleiben – will. Sie will.

Sport und Therapie – Sporttherapie
Im Vergleich zu Toronto lässt es Thorsten Kardel in Den Haag ruhig angehen. Er nimmt „nur“ im Zeitfahren auf dem Rad und beim Rudern teil. Wie seine Kameraden auch, ist er kein Profisportler. Er nimmt das Training zwar ernst. Seine Bestleistung möchte er schon gerne erbringen. Aber um Medaillen geht es ihm nicht. Der Stabsbootsmann will die Ziele erreichen, die er sich selbst in der Sporttherapie steckt. Das kann Gewichtsverlust sein, eine bestimmte sportliche Leistung, aber auch persönliche Entwicklung. „So ein Sportevent ist eine Belohnung dafür, dass man sein Ziel erreicht. Ich fühle mich super geehrt“, sagt Kardel. Ihm ist es aber wichtig zu betonen, dass bei der Auswahl der Invictus Athleten nicht nur die sportliche Leistung zählt. Das Team in der Sporttherapie arbeite genauso an der persönlichen und emotionalen Entwicklung, erklärt der Stabsbootsmann. Es werde sehr genau darauf geachtet, ob Teilnehmer körperlich und mental dazu bereit sind, an großen Sportveranstaltungen teilzunehmen. Das müsse auch so sein, meint er. „Bei den Invictus Games gibt es Feuerwerke, da fliegen auch Helikopter drüber. Und alle, die im Einsatz waren, können von solchen Geräuschen getriggert werden.“

„Wir haben einfach diese Schlafprobleme“
Der Marinesoldat kann eindrücklich erklären, warum Sport für viele Menschen mit seiner Diagnose eine große Hilfe sein kann. „Mehr als zwei bis drei Stunden schlafe ich meist nicht“, sagt er. Das sei für ihn mittlerweile normal, aber gesund sei das eben trotzdem nicht. Der Sport hilft. Man wird müde, man lenkt sich ab von Gedanken, die einen in den Schlaf verfolgen. „Ich hätte früher nie gedacht, dass ich mal fünf oder sechs Stunden am Tag auf dem Rennrad sitzen würde“, erzählt der Stabsbootsmann lachend. Seine Frau, mit der er seit 22 Jahren zusammen ist, die den Fernpendler nur am Wochenende sieht, hat es nicht immer leicht mit seiner Sportleidenschaft. „Wenn ich am Wochenende auch noch laufen gehe, sagt sie sich natürlich, dass es schön wäre, wenn wir jetzt gemeinsam was machen.“ Aber Kardel hat Glück, seine Frau und er konnten immer miteinander reden. Sie leben beide damit, dass er „nicht mehr der ist, der er einmal war“. Eine „unwahrscheinlich wichtige Rolle“ neben der Familie und dem Sport spielt auch sein berufliches Umfeld. In seiner Dienststelle in Flensburg nehme man zwar Rücksicht auf seine Diagnose, tue aber auch nicht so, als könne er nichts mehr im Dienst leisten. Kardel fühlt sich so wohl, dass er und seine Frau sogar eine heimatnahe Versetzung ausschließen.

„Was andere denken, war mir egal“
In seiner Dienststelle in Flensburg wissen die meisten von seiner Diagnose. Aber wenn neue Kameraden kommen und von Kardels PTBS erfahren, hört er oft: „Du bist krank? Das merkt man Dir gar nicht an!“ „Dann habe ich alles richtig gemacht“, sagt der Norddeutsche. Er selbst muss mit den Auswirkungen seiner Erkrankung umgehen, aber er will andere das nicht ständig spüren lassen. Nicht weil er sich schämt oder Angst hat, man könnte ihn für schwach halten. Aber er will sein Leben nicht von der Diagnose dominieren lassen. Er lebt damit; mal besser und mal schlechter.
Schlecht war es vor rund 10 Jahren. Da kehrt der Norddeutsche aus dem UNIFIL Einsatz zurück, in dem seine „beiden Sachen vorgefallen“ sind. Was er auf See beim Untergang eines Schiffes und beim Absturz eines Flugzeugs mit wenigen Wochen Abstand gesehen hatte, konnte er nicht „wegstecken“. Eine Woche nach dem Einlaufen des Minenjagdbootes, auf dem er als Elektroniker dient, geht er zum Sanitätsbereich. Als der Truppenarzt von Kardels Schweißausbrüchen, Schlafstörungen und aggressivem Verhalten hört, reagiert er sofort. Er überweist ihn ins Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg. Es folgen sechs Wochen stationäre Behandlung. Dann kommen mehrere Jahre Therapie, ein Lernprozess. Denn auch wenn der Marinesoldat sich frühzeitig Hilfe geholt hat: Das Trauma und dessen Wirkung ist damit nicht ausgelöscht. „Ich habe mich am Anfang zurückgezogen, kaum gesprochen, dann kam Frustfressen und ich habe nur noch zugenommen. Ich habe mich hängen lassen.“ Bevor er es selbst erlebt hat, hat er nicht verstehen können, wenn andere sich so „gehen lassen“. Bis heute ist Thorsten Kardel nicht geheilt. Aber er kann arbeiten, ist für das Betriebliche Gesundheitsmanagement in seiner Dienststelle zuständig. Und wenn er Unterstützung braucht, spricht er mit einer Therapeutin. Geholfen hat der Rückhalt der Familie – und der Sport. Der Sport ist immer da, Tag und Nacht.

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