Afghanische Sicherheitskräfte inspizieren am folgenden Tag die ausgebrannten Wracks der Öl-Tanklaster. Foto: picture alliance/dpa

Afghanische Sicherheitskräfte inspizieren am folgenden Tag die ausgebrannten Wracks der Öl-Tanklaster. Foto: picture alliance/dpa

03.09.2019
Julian Reichelt

Die Nacht von Kundus

Es war eine Nacht, die Deutschland für immer verändern sollte. Eine gewaltige Explosion in der nord-afghanischen Provinz Kundus zerstörte das mühsam gepflegte Selbstbild der Deutschen, dass der Krieg, an dem sie seit Jahren teilnahmen, eigentlich gar kein Krieg war. Dass Deutschland Krieg führen könnte, ohne tödliche Gewalt einzusetzen. Dass die Bundeswehr in einem höchst feindseligen Umfeld westliche Werte und die Sicherheit Europas gegen Terroristen durchsetzen und verteidigen könnte, ohne die Sprache des Kriegs zu sprechen und die Mittel des Kriegs einzusetzen.

Es war die Nacht, in der der politisch gewollte und geradezu quälend erzwungene Mythos unterging, dass Deutschland – als Lehre aus der Geschichte – Krieg führen könnte, ohne jemals einen moralischen Graubereich betreten zu müssen. Ohne je erklären zu müssen, warum es in einer Situation geboten sein mag, zu töten. Ein bis dahin (und weitestgehend bis heute) für weite Teile der deutschen Politik undenkbarer oder zumindest unaussprechlicher Gedanke.

Es war die Nacht zum 4. September 2009, mondhell, als Oberst Georg Klein, damals Kommandeur in Kundus, den Befehl gab, einen festgefahrenen Tanklastzug in einem Flussbett zu bombardieren. Klein fürchtete, dass die Taliban den Tanklastzug entführt hatten und als verheerende rollende Bombe gegen sein Camp Kundus und seine Soldaten einsetzen würden. Die moralische Klarheit, die tödliche Entscheidungen erträglich macht, konnte er in jener Nacht nicht haben. Er konnte nicht sicher wissen, ob es wirklich einen Anschlag mit dem Tanklastzug geben würde. Er konnte nur die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags auf seine Soldaten abwägen gegen all die Leben, die er durch seinen Befehl nehmen würde.

Eine im zivilen Leben fast obszön anmutende Entscheidung, die im Krieg Alltag ist und die Menschen für immer verändert. Eine Entscheidung, die man sein Leben lang mit sich trägt und auf deren quälende Fragen man niemals Antworten bekommen wird: Hatte ich ein moralisches Recht zu töten? Habe ich mehr Leben gerettet, als ich genommen habe? Oder umgekehrt? Gibt es überhaupt ein Recht, auch nur ein unschuldiges Leben zu nehmen, um die zu beschützen, die mir anvertraut sind?

Aufgrund unserer Verfassung unbestreitbar ist, dass Oberst Klein seine Entscheidung im Namen aller Deutschen traf. Als Kommandeur in einer Parlamentsarmee handelte er in jener Nacht stellvertretend für jene, die ihn geschickt hatten, wiederum stellvertretend im Namen jener, die sie gewählt hatten.

Unbestreitbar ist aber leider auch, dass später kaum jemand bereit war, die Last seiner Entscheidung, seiner Verantwortung mitzutragen. Von den Realitäten des Kriegs, in den man Oberst Klein im Namen des deutschen Volkes geschickt hatte, wollte in Deutschland später kaum jemand etwas wissen.

„Ein deutsches Verbrechen“ nannte „Der Spiegel“ die Entscheidung von Oberst Klein, natürlich wissend, dass ein Verbrechen in einem Krieg so ziemlich die schwerste Anschuldigung ist, die man gegen einen Deutschen erheben kann. Eine Anschuldigung, für die sich später nie ein Beweis finden sollte. Aber das war die Stimmung damals, vor zehn Jahren: Wenn Deutschland Krieg führt, ohne zu töten, dann muss das Töten von Menschen zwingend die verbrecherische Eigenmächtigkeit eines Einzelnen sein.

Deutschland, Politik und Medien voran, wollten moralische Eindeutigkeit in einer Situation, die keine moralische Eindeutigkeit zulässt. Deutschland wollte Entlastung des eigenen Gewissens. Oberst Klein wurde zum Opfer einer Gesellschaft, die nach den Verbrechen der deutschen Geschichte im Krieg der Gegenwart einen deutschen Sonderweg suchte: den einwandfreien, sauberen Krieg, den Krieg, der nicht so genannt werden durfte, in dem Gefallene nicht Gefallene genannt werden sollten, in dem soldatische Sprache (wie zum Beispiel das Wort „vernichten“) als unzumutbar empfunden wurde. In dem die Politik jede Patrouille durch Taliban-Gebiet zum Besuch einer Mädchenschule oder zur Brunnenbaumission umdeutete, bis man sich fragte, warum deutsche Soldaten in Afghanistan überhaupt Waffen mit sich trugen, sollte es doch nur um „wave and smile“ und „winning hearts and minds“ gehen. Oberst Klein traf eine Entscheidung, die politisch und gesellschaftlich nicht vorgesehen war. Es konnte nicht richtig oder auch nur vertretbar sein, was es in der politischen Erzählung vom deutschen Afghanistan-Einsatz gar nicht geben durfte.

Mit einem Jahrzehnt Abstand muss man leider festhalten: Nach jener Nacht des 4. September 2009 hat Deutschland die Chance verpasst, sein Verhältnis zu politisch legitimierter Gewalt, zu Gewalt als letztes Mittel der Politik zu überdenken und zu definieren. Die deutsche Politik hatte die Chance, die Frage zu diskutieren, ob Deutschland bereit ist, den Einsatz von Gewalt als legitimes und manchmal notwendiges Mittel anzuerkennen und die damit verbundenen moralischen Konsequenzen, all die Unschärfen und Ungewissheiten von Entscheidungen im Krieg mitzutragen, um nicht nur in den wohlfeilsten Worten, sondern auch in den unbequemsten Taten der westlichen Wertegemeinschaft anzugehören, einen relevanten und angemessenen Platz in ihr einzunehmen und sie auch dort zu verteidigen, wo es politisch frostig und militärisch blutig wird.

Unzählige Male wurde nach diesem 4. September 2009 in außen- und sicherheitspolitischen Debatten gefordert, Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Aber was das genau bedeuten soll, wofür Verantwortung und wodurch, welchen Preis man als Gesellschaft dafür bereit ist zu zahlen, das wurde nie ernsthaft diskutiert.

Die zahlreichen wankelmütigen Entscheidungen, die in der deutschen Politik nach der Nacht von Kundus getroffen wurden, belegen das. Enthaltungen (Libyen), Einsätze ohne wahre militärische Teilnahme und Teilhabe (Counter-ISIS), Wegducken, wenn es in der Straße von Hormus um freie Seewege geht. Selbst zum gemeinsamen Zwei-Prozent-Ziel der Nato will Deutschland sich nicht bekennen. Teile der Bundesregierung deuten die deutsche Selbstverpflichtung gar in eine wahnwitzige, kriegslüsterne Aufrüstungsspirale um, obwohl es nur um das geht, was Deutschland seinen Verbündeten zugesagt hat.

Die Nacht von Kundus kann somit zehn Jahre später als trauriges Symbol für deutsche Geopolitik gelten: Die einzige Lufthoheit, die Deutschland bedingungslos verteidigt, ist die moralische Lufthoheit. Gewalt als Mittel der Politik beurteilen wir lieber aus der Ferne, als es uns selber zuzumuten, selbst wenn es um den Kampf gegen verbrecherische Regime oder Terroristen geht, deren oberstes Ziel unsere Auslöschung ist.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf Befehl von Oberst Klein auch unschuldige Zivilisten ihr Leben verloren. Ihnen sollten wir gedenken. Ich bin mir sicher: Kein Tag vergeht im Leben von Georg Klein, an dem er das nicht tut.

Julian Reichelt ist Vorsitzender der Chefre­daktion von „Bild“. Über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan berichtete er als Chefreporter der „Bild“ und veröffentlichte zu diesem Thema gemeinsam mit Jan Meyer das Buch „Ruhet in Frieden, Soldaten!“ „Bild” und „Bild am Sonntag” wurden 2019 mit dem Preis „Bundeswehr und Gesellschaft” ausgezeichnet.

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