Rebellierende Matrosen nach der Erstürmung des Marine-Militärgefängnisses am 6. November 1918 Foto: picture alliance

Rebellierende Matrosen nach der Erstürmung des Marine-Militärgefängnisses am 6. November 1918 Foto: picture alliance

09.11.2018
Matthias Rogg

Matrosenaufstand 1918: Meuterei – Revolte – Revolution

Geschichte und Tradition sind für Streitkräfte gleichermaßen wichtig. Sie sind unverzichtbare Basis der politischen Bildung aufgeklärter Staatsbürger und Ferment für das Selbstverständnis einer professionellen Armee, die weiß, für welche Werte sie steht. Loyalität und Gehorsam gehören zu den Eckpfeilern dieses Wertesystems – aber sie sind kein Selbstzweck, sondern immer an Recht, Gesetz und vor allem an die Bejahung unveräußerlicher Menschenrechte gebunden.

Die deutsche Militärgeschichte kennt einige Beispiele, in denen widerständiges Verhalten geradezu vorbildhaft herausgestellt und traditionsstiftend erinnert wird: Am prominentesten ist der militärische Widerstand gegen Hitler. Bei genauerem Hinsehen finden sich aber weit mehr Beispiele, die erinnert und deren Traditionswürdigkeit diskutiert werden sollten. Ein zentrales Ereignis jährt sich nun zum hundertsten Mal.

Im Oktober 1918 war die militärische Lage für das Deutsche Reich hoffnungslos. Nach vier Jahren Krieg und einem letzten Aufbäumen im Frühsommer 1918 befand sich das deutsche Heer an allen Fronten auf dem Rückzug. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg hatten die Alliierten eine erdrückende Überlegenheit gewonnen. Deutschlands Verbündete Bulgarien und Türkei mussten kapitulieren, Österreich-Ungarn stand kurz vor dem Kollaps und im Herbst machten sich erste Auflösungserscheinungen bei den deutschen Fronttruppen breit. Das Deutsche Reich hatte sich im Verlauf des Kriegs schrittweise zu einer Militärdiktatur entwickelt, in der der Kaiser nur noch eine Statistenrolle einnahm.

Doch statt sich der politischen Verantwortung zu stellen, drängten die beiden maßgeblichen Militärs, Generalfeldmarschall von Hindenburg und Generaloberst Ludendorff, nun den Kaiser, eine neue Regierung zu berufen: mehrheitlich aus Mitgliedern der Sozialdemokratie und liberalen Kräften. Die neue Reichsregierung sollte umgehend mit den USA Waffenstillstandsverhandlungen aufnehmen und gleichzeitig die undankbare Aufgabe übernehmen, der deutschen Öffentlichkeit die anstehende Niederlage zu erklären.

In dieser für Deutschland hochbrisanten Lage rückte nun die kaiserliche Flotte vom Rand in das Zentrum des Geschehens. Die deutsche Hochseeflotte war eigentlich das Lieblingskind Wilhelms II. und Stolz der ganzen Nation. Aber mit Ausnahme der Skagerrakschlacht im Mai 1916 blieb die teure Flotte während des gesamten Krieges durch eine permanente Blockade der britischen Grand Fleet weitgehend in ihren Stützpunkten gebunden. In einer Mischung aus Sarkasmus und Resignation kursierte damals in der Marine der Liedtext: „Lieb Vaterland ,magst ruhig sein, die Flotte schläft im Hafen ein.“

Der von Enge und Monotonie geprägte Alltag auf den Kriegsschiffen, übertriebene Disziplin und die schlechte Versorgung der Mannschaften beförderten ein Klima, in dem die sozialen Spannungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen immer deutlicher hervortraten. Im Sommer 1917 kam es bei den vor Wilhelmshaven auf Reede liegenden Schiffen erstmals zu widerständigem Verhalten einiger hundert Matrosen. Die Marineführung griff mit unangemessener Härte durch und ließ zwei Rädelsführer als abschreckendes Beispiel erschießen. Die berechtigten Anliegen der Matrosen blieben ungehört – aber der Konflikt schwelte weiter.

Als die militärische und politische Lage des Deutschen Reichs nun im Oktober 1918 immer aussichtsloser wurde, erarbeitete die Marineführung einen aberwitzigen Plan. Obwohl die neue Reichsregierung unter Hochdruck an einem Waffenstillstand arbeitete, entwickelte die Seekriegsleitung einen Operationsplan, der die englische Flotte zu einer Entscheidungsschlacht zwingen sollte. Die Widersinnigkeit eines solchen Unternehmens brachte die Marineleitung selbst auf den Punkt: „Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wende erfährt, so ist es doch aus moralischen Gesichtspunkten Ehren- und Existenzfrage der Marine, im letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben.“

Konspirativ gegen die rechtmäßige Regierung zu agieren: Das war Hochverrat! Obwohl die Vorbereitungen zum „Todesritt“ unter äußerster Geheimhaltung liefen, blieb den Besatzungen das eigentliche Ziel nicht verborgen. Am 27. Oktober begannen die ersten Einheiten in Wilhelmshaven Befehle zu verweigern – ohne Gewalt anzuwenden. Das ohnehin untergrabene Vertrauen zwischen Mannschaften und Offizieren, die immer stärker werdende Kriegsmüdigkeit und nicht zuletzt die Illoyalität der Marineführung gegenüber der neuen Regierung entfachte binnen weniger Tage ein Feuer des Widerstands.

Die Matrosen rebellierten nicht aus Feigheit – im Gegenteil. In Wahrheit widersetzten sich die meuternden Matrosen gegen die tatsächlichen Meuterer, nämlich ihre Offiziere, die den Willen der Regierung nicht akzeptieren wollten: den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Das war der wesentliche Unterschied zwischen dem Aufbegehren von 1917 und dem offenen Widerstand von 1918.

Die Seekriegsleitung gab anfangs nicht klein bei, schickte Seesoldaten und nahm hunderte Matrosen in Arrest – auf einigen Schiffen jeden Dritten. Als die Disziplin immer weiter erodierte, entschied die Marineleitung, den operativen Vorstoß abzublasen und ein besonders „unzuverlässiges“ Geschwader in den Heimathafen Kiel zu verlegen. Doch statt den Aufstand einzudämmen, passierte genau das Gegenteil. In Kiel breitete sich der Geist der Revolte wie ein Lauffeuer aus und griff jetzt von den Schiffen auf die Werftarbeiter über. Am 3. November eskalierte die Situation bei einer Demonstration in der Kieler Innenstadt, als Marinesoldaten das Feuer eröffneten und neun tote und 29 verletzte Demonstranten zurückblieben.

Auf den Schiffen wurde die Rote Flagge gesetzt


Nun drehte sich das Blatt. Am darauffolgenden Tag setzten die revoltierenden Matrosen den amtierenden Marinegouverneur ab, bewaffneten sich und wählten Arbeiter- und Soldatenräte, die ihre Interessen vertreten sollten. Die Umstände erlaubten keine organisierten Wahlen, sodass die meisten Räte per Akklamation bestimmt wurden. Nicht Spartakisten (die Vorläufer der kommunistischen Partei) oder Bolschewisten, sondern die informellen Vertrauenspersonen und vor allem die politisch gut organisierten Mitglieder der gemäßigten MSPD (Mehrheits-SPD) und der radikaleren USPD (Unabhängige SPD) bildeten die Basis dieser Arbeiter- und Soldatenräte.

Als Zeichen der neuen vollziehenden Gewalt wurde auf allen Schiffen die Rote Flagge gesetzt. Trotz dieses sichtbaren politischen Zeichens und mit dem Seitenblick auf die erst ein Jahr zurückliegende „Oktoberrevolution“ gab es keine bolschwewistisch-revolutionäre Massenbewegung wie in Russland – im Gegenteil. Alles verlief weitgehend gewaltfrei und ohne privates Eigentum anzutasten. Die revoltierenden Matrosen, Soldaten und nicht zuletzt Arbeiter, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist, bildeten ein mit der neuen Regierung sympathisierendes „improvisiertes Notstandsregime“, wie es der Historiker Jörn Leonhardt treffend ausdrückte. Sie schlossen damit die Lücke, die das implodierende Kaiserreich hinterließ.

Die anfängliche Meuterei der Matrosen, die zu einer Revolte der Flotte angewachsen war, entwickelte sich nun zu einer Revolution, die binnen weniger Tage die großen Städte des Rheinlands, Leipzig, München und schließlich Berlin erreichte. Kurz darauf dankte der Kaiser ab und gab den Weg zur Republik und zur parlamentarischen Demokratie endgültig frei.

Der Weg der jungen Republik von Weimar in den blutigen Bürgerkrieg des Winters 1918/19 war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erkennen und er war vor allem nicht zwangsläufig. Das Urteil über die Revolution und nachgerade die offene Widerständigkeit der Matrosen von Wilhelmshaven und Kiel blieb lange umstritten. In der westdeutschen Geschichtswissenschaft galt Jahrzehnte die Auffassung, es hätte nur die Wahl zwischen einem bolschewistisch-proletarischen Umbruch oder einem parlamentarisch-demokratischem System unter Einbindung der alten Eliten gegeben. In der DDR galten die „Roten Matrosen“ als Vorkämpfer einer sozialistischen Revolution, die am Ende aber von den Sozialdemokraten und bürgerlichen Kräften verraten worden seien.

Gerade die penetrante ideologische Vereinnahmung des SED-Regimes hat den freien Blick auf die Ereignisse und Personen getrübt. Heute fällt das Urteil wesentlich differenzierter aus. Die historische Forschung konnte nachweisen, dass die Masse der Soldaten und Räte in Wahrheit demokratisch gesinnt war. Ihre Forderungen nach freien und gleichen Wahlen, politischer Beteiligung und Meinungsfreiheit mögen seinerzeit radikal gewesen sein – heute sind sie Garant einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Und die Matrosen vom Herbst 1918 zeigten Zivilcourage, Eigeninitiative und Entschlossenheit: genug Gründe, ihr Handeln auch nach 100 Jahren würdig zu erinnern.

Oberst Prof. Dr. Matthias Rogg ist Historiker und Geschäftsführender Vorstand des neu gegründeten „German Institute for Defence and Strategic Studies“ (GIDS) in Hamburg.

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