Soldaten an einer Gedenktafel im „Wald der Erinnerung“ in Geltow/Potsdam Foto: DBwV/Hepner

Soldaten an einer Gedenktafel im „Wald der Erinnerung“ in Geltow/Potsdam Foto: DBwV/Hepner

19.06.2018
Von Loretana de Libero

Tradition 3.0: Chance und Herausforderung der neuen Richtlinien

Tradition ist dynamisch. Jede Generation sucht sich aus der Geschichte geeignete Personen, Ereignisse oder Haltungen aus, die helfen, Herausforderungen ihrer Zeit zu bewältigen. Die gewählten Beispiele sollen Identität stiften, den Zusammenhalt stärken, Halt und Orientierung bieten. Tradition ist nicht mit Geschichte gleichzusetzen. Sie ist das Ergebnis einer bewussten Auswahl aus und einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Tradition ist schwierig, zumal die deutsche Militärtradition. In den modernen deutschen Streitkräften werden daher Traditionsverständnis und Traditionspflege durch einen Erlass geregelt. Seit März 2018 ist nun der dritte Traditionserlass in der Geschichte der Bundeswehr von der Verteidigungsministerin in Kraft gesetzt worden. Diese Richtlinien aktualisieren und konkretisieren den alten Erlass von 1982. Sie grenzen sich schärfer ab gegen totalitäre Regime und deren Streitkräfte, sie betonen noch stärker die Wertebindung soldatischen Handelns. Mit ihren Grundsätzen und Vorgaben sollen sie handlungsleitend nach innen wirken, gleichzeitig aber auch ein Signal in die Gesellschaft senden, dass die Bundeswehr als „Armee der Demokratie“ (Ziffer 1.4) in ihrer Mitte fest verankert ist. Tradition dient somit auch als ein wichtiges Scharnier zwischen Militär und Zivilbevölkerung.

Zusammen mit der Zeichnung des Erlasses wurde erstmals eine Kaserne der Bundeswehr nach einem im Auslandseinsatz getöteten Soldaten benannt. Der Sitz der Schule für Feldjäger und Stabsdienst in Hannover heißt nun Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne. Der 31-jährige Personenschützer Tobias Lagenstein war 2011 bei einem Anschlag in Afghanistan ums Leben gekommen. Die Initiative zur Umbenennung der Kaserne kam aus der Mitte der Kameraden, die Lagensteins vorbildliche Pflichterfüllung, Hingabe an den Auftrag und sein aktives Opfer für die Verteidigung unserer Werte zu würdigen wünschten.

Mit dieser Ehrung eines jungen Feldjägers, der in Afghanistan sein Leben gab, wurde ein deutliches Zeichen gesetzt für ein zeitgemäßes Traditionsverständnis, auch gegen diejenigen, die die Leistungen, Einsätze und Erfahrungen der Bundeswehr in ihrer über 60-jährigen Geschichte eher geringachten. Erst kürzlich nannte ein ehemaliger Generalinspekteur die Leistungen der Bundeswehr im Kalten Krieg, die Tradition des Helfens, mithin das aktive Opfer von Soldaten für die Bevölkerung, „eine seitliche Arabeske“.

Ein ranghoher General erklärte Mitte des letzten Jahres, „von sich allein heraus könne die Bundeswehr keine Tradition begründen“. Verkannt wird bei solchen Äußerungen, die Geschichte und Tradition in eins setzen, dass sie einer Verklärung der Wehrmacht Vorschub leisten, sich einer reflektierten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte verweigern und letztlich die Bundeswehr zum Anbeten von Asche degradieren. Wie kann die Bundeswehr Anerkennung von der Gesellschaft erfahren, wenn sie selbst ihre eigenen Leistungen kaum anerkennt, darüber hinaus wenig Kenntnis von ihrer eigenen Geschichte besitzt und sie daher auch nach außen hin selten selbstbewusst zu vertreten vermag?

Voraussetzung für ein wertorientiertes Traditionsverständnis und eine zeitgemäße Traditionspflege ist daher eine fundierte historisch-politische Bildung, die Vermittlung historischer Kompetenz gegen Unsicherheit und Geschichtslosigkeit. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sollen in der Lage sein, historische, politische und ethische Zusammenhänge zu verstehen, zu reflektieren und zu einem eigenständigen Urteil zu gelangen. Was das bewusste Auswählen aus der Geschichte angeht, können Historiker der Truppe zwar auch Angebote unterbreiten, es verbleibt jedoch die Entscheidungs- und Ermessensfreiheit bei den Soldatinnen und Soldaten. Traditionspflege und historische Bildung sind zudem Führungsaufgaben (Ziffer 4.3).

Was die Auswahl angeht, so fordert der Erlass auf, selbstbewusst die eigene, lange Geschichte und die eigenen Leistungen zum zentralen Bezugspunkt der Bundeswehrtradition zu nehmen (Ziffer 3.2). Konkret bedeutet dies für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, aus mehr als sechs Dekaden Vorbilder zu identifizieren, Einsätze, Ereignisse und Erfahrungen zu erinnern und weiterzugeben.

Fern ab von Lesebuchgeschichten und Landserbildern, von „verjährten Märchenerzählungen“, wie dies einmal Theodor Heuß nannte, geht es darum, eine moderne militärische Erinnerungskultur zu entwickeln, auch und besonders mithilfe von gewachsenen Ritualen, Symbolen und kollektiven Praktiken. Tradition darf nicht abstrakt bleiben. Sie hat „nicht nur Kopf und Verstand, sondern in besonderer Weise auch Herz und Gemüt“ anzusprechen (Ziffer 1.2).

Die Bundeswehr hat aus sich heraus genug Tradition


Die Bundeswehr ist eine Armee des Einsatzes in einem sich stetig wandelnden sicherheitspolitischen Umfeld. Sie hat sich zusammen mit ihren Bündnispartnern in vielen humanitären Missionen, in Hilfs-, Stabilisierungs- und Kampfeinsätzen bewährt. Die verschiedenen Einsätze, auf die sie mit Recht stolz sein kann, stellen bereits ein reichhaltiges Reservoir für eine sinnstiftende Traditionspflege dar. Die Bundeswehr kann aus sich heraus eine Fülle an eigenen Traditionen begründen.

Sinnstiftende Vorbilder aus den eigenen Reihen (und aus unserer gesellschaftlichen Mitte) spiegeln das vielfältige soldatische Anforderungsprofil wider, retten, helfen, kämpfen. Offizielle Ehrungen erfolgen über Gedenkveranstaltungen, Erinnerungsorte oder seit 2008 auch über Auszeichnungen. Aus der Zeit der frühen Bundeswehr wird bislang vor allem zwei vorbildgebenden Soldaten gedacht: Feldwebel Erich Boldt, der bei einer Sprengübung im Jahre 1961 für Kameraden sein Leben gab. 1992 wurde er Kasernenpatron für die Unteroffizierschule des Heeres in Delitzsch.

Das Kommando Heer ehrt ihn in Strausberg mit einer Gedenktafel. Oberleutnant Ludger Hölker, der sich 1964 opferte, um den Absturz seines Flugzeuges auf die damalige Gemeinde Straßberg zu verhindern. Das Auditorium Maximum in der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck trägt seit 1977 seinen Namen, ebenso eine Grundschule in Straßberg (seit 2010) sowie drei Straßen, in Straßberg selbst (1964), in seinem Geburtsort Billerbeck (2004) und an seinem letzten Dienst­ort in der nun abgerissenen Schwabstadt-Kaserne (1984).

Die gegenwärtige Armee im Einsatz hat neben Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein weitere Beispiele an vorbildlicher soldatischer Pflichterfüllung vorzuweisen. Für besonders herausragende Leistungen unter Gefahr für Leib und Leben wurden seit 2009 mehr als 145 Soldatinnen und Soldaten das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold in besonderer Ausführung verliehen, 29 Soldaten wurden für außergewöhnlich tapfere Taten mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit ausgezeichnet. Das Kommando Heer in Strausberg ehrt im Hauptgebäude der von-Hardenberg-Kaserne seit 2015 auf einer Tafel namentlich die Träger des Ehrenkreuzes für Tapferkeit. Erwähnt seien hier etwa zwei Gefallene des Karfreitagsgefechts, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptgefreiter Martin Kadir Augustyniak.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich zudem eine einsatzgeprägte Gedenkkultur herausgebildet. Erkennbar ist dies an den Ehrenhainen in den Einsatzgebieten (Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Mali), von denen einige bereits in den „Wald der Erinnerung“ nach Deutschland überführt wurden. Erkennbar ist dies auch an einer Vielzahl individueller wie kollektiver Rituale, darunter ein „infrastrukturelles“ Erinnern, das heißt eine Benennung von Straßen und Bauwerken nach verunglückten oder gefallenen Soldaten in den Einsatzgebieten, so etwa die Dr. Sven Eckelmann-Straße im Feldlager in Prizren (2005), das Oberstabsarzt Dr. Thomas Broer-Lazarett im Camp Marmal (2010) oder die 2015 von den Taliban zerstörte Mischa-Meier-Brücke über den Kundus-Fluss (2011).

Tradition ist dynamisch. Sie bietet der Armee im Einsatz die Chance, über ihre beispielhaften Einsatzerfahrungen eigene Traditionen zu bilden. Tradition ist schwierig. Die wertebezogene Auswahl aus der Geschichte stellt für die Soldatinnen und Soldaten eine nicht geringe Herausforderung dar. Der neue Erlass gibt hier Orientierung, muss aber in seinen Vorgaben ernst genommen und mit Leben gefüllt werden. „Erinnern wir uns, wer nicht vorschreitet, der schreitet zurück“ (Theodor Fontane, „Schach von Wuthenow“, 1883).

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