Ehrenhain aus dem OP North im Wald der Erinnerung in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Potsdam. Foto: Bundeswehr/Hannemann

Ehrenhain aus dem OP North im Wald der Erinnerung in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Potsdam. Foto: Bundeswehr/Hannemann

18.11.2017
Manfred Hettling

Der gefallene Soldat – eine politische Herausforderung

Von Manfred Hettling

Der Schutz der eigenen Bevölkerung ist eine der zentralen Aufgaben des modernen Staates. Leben, Freiheit und Eigentum des Bürgers zu verteidigen sowie zu garantieren, bildet den Kern der öffentlichen Ordnung. Hierfür hat der Staat seit der Neuzeit eigene Machtmittel ausgebildet und er hat mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols – gegen den Adel, gegen religiösen Bürgerkrieg, gegen soziale Revolten, gegen Räuber und Piraten, gegen kriminelle Clans – konkurrierende Gewaltträger im Innern ausgeschaltet. Erst auf dieser Grundlage waren und sind öffentlicher Frieden, rechtliche Ordnung und ein gesichertes Leben möglich.

Die wichtigsten staatlichen Schutzinstitutionen sind Militär (für den Schutz gegen äußere Gefahren) und Polizei (für den Schutz im Innern). Die staatliche Garantie der Sicherheit jedes Bewohners im Rahmen der rechtlichen Ordnung ist somit gebunden an die Möglichkeit, einzelnen Bürgern Risiken abzuverlangen, um andere davor zu bewahren zu können. Vereinfacht gesagt: Der Soldat ist ein besonderer Bürger, da ihm abverlangt wird, für die Sicherheit des politischen Gemeinwesens sein Leben einzusetzen. Oder, wie es seit der Zeit um 1800 hieß, möglicherweise sein Leben fürs Vaterland zu opfern.

Dass der Tod des Soldaten als besondere Tat für das politische Gemeinwesen wertgeschätzt werden konnte, ist damit an grundlegende Bestandteile unserer modernen Welt gebunden. Den Staat als Ordnungsrahmen für Recht und Gesetz, die Nation als Solidarverband von Gleichen untereinander, zumindest das Versprechen auf politische Teilhabe, auf demokratische Partizipation. Aus heutiger Sicht übersieht man leicht, wie radikal der Anspruch war, der nach 1789 in Frankreich und nach 1813 in Preußen erhoben wurde, dass jeder Bürger potenziell Soldat, dass jeder Soldat Bürger sein sollte. Das war gegen ständische Ungleichheiten gerichtet, gegen die alte feudale Ordnung, und verlangte vom Bürger den umfassenden Einsatz für das Schicksal der Nation, und versprach umgekehrt dafür auch politische Teilhabe. 

Die historischen Anfänge einer öffentlichen Wertschätzung des soldatischen Opfers für das Vaterland oder die Nation sind damit zwar potenziell aggressiv (wie die Fürstenregime zuvor erst recht), aber auch potenziell anti-obrigkeitlich. Die Mobilisierung als Nation konnte sich gegen andere Nationen richten, aber auch gegen Monarchen; der alte Fürstenstaat hatte dieser nationalen und demokratischen Herausforderung letztlich wenig entgegenzusetzen. Wenn Friedrich der Große im Jahr 1757 fliehende Soldaten nach der Niederlage bei Kolin zynisch verhöhnte, „verfluchte Racker, wollt ihr denn ewig leben“, ist das zwar nicht belegt, aber als Anekdote erhellend.

Die oft gepressten Soldaten des alten Fritz empfanden wenig innere Anteilnahme für das Schicksal des Landes, in dessen Armee sie dienten. Wenn dann 1813 Gneisenau die Standhaftigkeit der Landwehr und des regulären Heeres in den Märschen und Kämpfen gegen Napoleon lobte, obwohl etwa viele Landwehrsoldaten ohne Schuhe marschieren mussten, dann illustriert das die historische Zäsur. Der dynastische Krieg der Jahrhunderte zuvor wurde nun zum Krieg der Nationalstaaten. Die Idee der Nation konnte auf neuartige Weise mobilisieren.
 
Seither erforderte der Gefallene eine politische Rechtfertigung, weil er zugleich ein toter Bürger war, und weil Soldaten und Bürger den gleichen politischen Zielen verpflichtet sein sollten. Hierfür entstanden eigene Darstellungsformen, am bekanntesten sind die „Kriegerdenkmale“, die das Prinzip, für das gestorben sein sollte, und den Namen der Gefallenen öffentlich sichtbar machten. Preußen war nach 1813 das erste Land in Europa, welches jeden einzelnen Gefallenen mit seinem Namen öffentlich würdigte, auf „Gedächtnistafeln“ in den Kirchen. Wie groß die nationaldemokratische Sprengkraft dieser Legitimationsidee war, belegt nicht zuletzt die Anstrengung der preußischen Monarchie, das sogleich zu vereinahmen. „Mit Gott für König und Vaterland“, das neue Motto, artikulierte mit der Reihung auch eine Hierarchisierung.

Die kirchlichen „Gedächtnistafeln“ (seit 1813), das Eiserne Kreuz (seit 1813), die Kriegerdenkmäler (seit Mitte des 19. Jahrhunderts), die Gedenktage (Sedanfeiern seit 1872, der Volkstrauertag seit 1925), die Soldatenfriedhöfe (seit dem Ersten Weltkrieg) – alle Formen der letzten zwei Jahrhunderte spiegeln einerseits die Durchsetzung des Anspruchs öffentlicher Anerkennung für den als Soldaten sein Leben opfernden Bürger und die Gleichheit als Mitglied der Nation.

Andererseits steht die gesellschaftliche Würdigung des Gefallenen in Deutschland seit 1813 in einer Deutungskonkurrenz. Diese lässt sich skizzieren als Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Polen: einem national-demokratischen Potenzial, mit dem politisch gleichberechtigten und verantwortlichen Bürger in Uniform, der etwa für die preußischen Reformen nach 1806 leitbildprägend war, der die Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht bildete, und nach 1945 in Baudissins Begriff des „Staatsbürgers in Uniform“ an diese nationalen sowie demokratischen Ursprünge des frühen 19. Jahrhunderts anschloss. Und einem autoritär-hierarchischen, welcher unpolitische militärische Treue an den Monarchen statt bürgerlicher Anteilnahme am Gemeinwesen zum Kern hatte; und im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Militär immer mehr gegen Einflüsse der bürgerlichen Gesellschaft abzuschotten versuchte sowie im Nationalsozialismus Führergehorsam und rassistische Prinzipien zum Maßstab nahm.
 
Aktuell steckt die bundesdeutsche Gedenkkultur an die neuen Toten der Bundeswehr in den Auslandseinsätzen in einem Dilemma. Die erfolgreiche Distanzierung von der nationalsozialistischen Diktatur und dem nationalsozialistischen Kriegsregime hat dazu geführt, dass sowohl die Notwendigkeit einer öffentlichen Gedenkkultur als auch die Möglichkeit einer demokratischen Gestaltung vielfach bezweifelt werden. Der gefallene Bundeswehrsoldat ist deshalb, trotz der Versuche, ihm mit dem Bundeswehr-Ehrenmal in Berlin (seit 2009) einen Platz im demokratischen Bewusstsein der Republik zu geben, öffentlich seltsam unbehaust. Bezeichnenderweise ist der „Wald der Erinnerung“, 2014 bei Potsdam eröffnet, als Erinnerungsort für trauernde Angehörige von Gefallenen und als Ruhestätte für die Gedenksteine der Einheiten in den Auslandsstandorten, in den einsamen brandenburgischen Wäldern entstanden.

Der Volkstrauertag böte die Chance, nicht nur – auch weiterhin – der Toten der Weltkriege zu gedenken, inzwischen ja auch den Toten der Bundeswehr, sondern auch über eine angemessene staatspolitische Symbolisierung und gesellschaftliche Praxis der Würdigung der neuen Gefallenen der Bundeswehr politisch zu diskutieren. Das um so mehr, weil Gedenktage speziell zu militärischen Belangen (etwa ein „Veterans Day“), die es in anderen demokratischen Ländern vielfach gibt, in der Bundesrepublik nicht vorhanden sind.

Drei Aufgaben stellen sich für die Zukunft. Für die Antworten muss auch das demokratische Potenzial im Gefallenengedenken erschlossen werden. Erstens sind angemessene Ausdrucksformen zu finden, um jener Erfüllung des genuin staatlichen Sicherheitsauftrags Ausdruck zu geben, ohne den kein moderner Staat bestehen kann. Da dieser nur von Bürgern für Bürger zu leisten ist, bedarf es auch bürgerlicher, das heißt staatlicher und gesellschaftlicher Anerkennungsformen.

Zweitens gilt es zu erinnern, dass in der Demokratie der demokratische Souverän die Entscheidung über den Einsatz des Militärs trifft. Das ist eine genuin politische Entscheidung. In der Bundesrepublik, mit dem oft beschworenen Selbstverständnis der Bundeswehr als einer Parlamentsarmee, sollten deshalb auch dezidiert politische Antworten auf den Tod von Bundeswehrsoldaten erfolgen. Parlament, Parteien und gesellschaftliche Öffentlichkeit können diesem unbequemen Thema nicht ausweichen.

Drittens stellt sich immer mehr die Frage, wie angesichts einer engeren supranationalen Zusammenarbeit innerhalb Europas Entscheidungen über Einsätze getroffen werden – was bleibt dann von der Parlamentsarmee? – und in welchem Verhältnis nationale und europäische Gedenkformen stehen werden. Verwiesen sei darauf, dass das Gefallenengedenken bisher in allen Ländern nahezu ungebrochen weiterhin innerhalb nationaler Traditionen und historisch gewachsener Formen verläuft.
 
Schließlich böte der Volkstrauertag auch Anlass, nicht nur über Revisionen oder notwendige Erweiterungen des sozialstaatlichen Versorgungsrepertoires für Folgen von militärischen Einsätzen zu diskutieren, sondern auch über die Unabdingbarkeiten für staatliche Sicherheit, zu denen auch die Opferbereitschaft von Bürgern gehört. Damit böte sich eine Chance, die Soldaten der Bundeswehr als unverzichtbaren Teil der demokratischen Bürgerschaft zu sehen und zugleich mit ihrer besonderen Leistung anzuerkennen.

Der Autor Prof. Dr. Manfred Hettling ist seit 2001 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle. Seine Interessen gelten unter anderem der Bürgergesellschaft und dem politischen Totenkult in Deutschland.

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